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Augsburg
15.12.2016

Wie schafft man es, als Analphabet durchs Leben zu kommen?

Jutta Braun aus Augsburg war Analphabetin - jettz liest sie Stellenanzeigen und blättert gerne im Atlas oder schaut auf der Weltkarte im Wohnzimmer.
Foto: Ulrich Wagner

7,5 Millionen Menschen in Deutschland haben mehr oder weniger große Probleme beim Lesen und Schreiben. Viele schämen sich dafür. Jutta Braun geht vergleichsweise locker damit um.

Jutta Brauns erster Sohn heißt Christofer. Den zweiten nannte sie Christian. Nicht, weil sie den Namen so schön findet, sondern wegen der Anfangsbuchstaben. „So wusste ich schon ein bisschen, wie man ihn schreibt.“ Aufs Papier bringt sie ihn trotzdem nur, wenn es unbedingt nötig ist.

Jutta Braun kennt zwar alle Buchstaben. Schwierig ist es aber dann, wenn sie in einer Reihe auftauchen, wenn man sie lesen soll oder gar schreiben. 7,5 Millionen Menschen im Land kennen dieses Problem.

700.000 Betroffene in Bayern

Funktionaler Analphabetismus nennt die Wissenschaft das Phänomen, von dem allein in Bayern rund 700.000 Menschen betroffen sind. Viele offenbaren sich nie.

Nicht lesen und schreiben zu können, das gibt es doch gar nicht. Denkt die Gesellschaft. Im Alltag fallen viele Betroffene kaum auf. Jutta Braun auch nicht.

Die 50-Jährige mit den kurzen, dunkelrot gefärbten Haaren ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, Ein-Euro-Job in der Spielwarenproduktion. In der roten Nicki-Jogginghose sitzt sie am Küchentisch ihrer kleinen Wohnung im Augsburger Stadtteil Bärenkeller und dreht sich eine Zigarette. „Rauchen kann tödlich sein.“ Was das bedeutet, weiß sie. Sie hat den Satz oft genug auf der Tabakdose gesehen. Braun raucht quasi Kette.

Strategien für den Alltag

Für den Alltag hat sie ihre Strategien. „Schauen Sie sich doch mal im Supermarkt um, auf wie vielen Verpackungen Bilder drauf sind.“ Sie deutet auf die Milchtüte auf dem Tisch, wo ein frisch eingeschenktes Glas abgebildet ist; auf die Dose mit dem Cappuccino-Pulver, auf der eine Tasse Kaffee den Inhalt verrät.

„Oder du stellst dich halt blöd.“ Erkennt man Lebensmittel im Discounter nicht, lässt man sich die Zubereitung erklären. Kann man das Straßenschild nicht lesen, fragt man einfach nach dem Weg. Ihre eigene Adresse musste sie sich auch erst mal einprägen, als sie 2005 die Wohnung bezog. Sie hat geübt, den Namen zu schreiben, ist wieder und wieder zum Straßenschild gegangen. Dann konnte sie es. „Man kommt immer irgendwie durch.“

Probleme in der Grundschule

Jutta Braun hat sich in ihrem Leben oft schwergetan. Nicht nur wegen ihrer orthografischen Probleme. Geboren in Mainz, machte sie in ihrer Familie viel durch, lebte schon als kleines Kind im Heim. In der Grundschule kam sie von Anfang an nicht richtig mit. Aber ihre Eltern waren nicht da, um mit ihr den Stoff zu üben. Das war Anfang der siebziger Jahre.

„Im Heim gab es damals zwei bis drei Erzieher auf 20 oder 30 Kinder.“ Wenig Zeit für den Einzelnen. Irgendwann waren die Schulprobleme so groß, dass Jutta Braun auf die Sonderschule geschickt wurde. Man habe dort kaum geschrieben, auch wenig Lese-Unterricht gemacht, erzählt sie.

Was an der Tafel stand, habe sie eher abgemalt als abgeschrieben. „Wie gesagt, die Buchstaben kannte ich ja schon irgendwie.“ Kurze Wörter – der, die das, bei, du – verstand sie auch inhaltlich. „Und mit dem Rechnen habe ich es immer gehabt.“ Die vierfache Mutter kann es sich selbst nicht erklären, aber den Wert der Zahlen habe sie sich merken können. Darauf ist sie stolz.

Bildungsforscher der Universität Hamburg haben 2011 die bisher ausführlichste Studie zum Analphabetismus in Deutschland vorgelegt. Sie fanden heraus, dass die Zahl der Betroffenen mit 7,5 Millionen doppelt so hoch ist, wie die Politik bis dahin angenommen hatte.

Die Studie enthüllte auch, dass vier von fünf Analphabeten die Schule erfolgreich absolviert haben. Zwölf Prozent von ihnen besitzen sogar einen höheren Bildungsabschluss, die Hälfte zumindest einen niedrigen.

„Kinder die einfach mitschwimmen“

Sigrid Puschner wundert das nicht. Sie leitet die Mittelschule Gersthofen, nur ein paar Kilometer von Jutta Brauns Wohnung entfernt. „Das sind Kinder, die einfach mitschwimmen“, sagt sie. Natürlich würden die Schüler ständig geprüft, aber „eine Note setzt sich ja aus vielen Facetten zusammen“. Bei Referaten und beim Ausfragen sei unerheblich, ob sich ein Schüler beim Lesen und Schreiben schwertut. Prüfungen mit Antwortmöglichkeiten zum Ankreuzen tun ihr Übriges.

Noch dazu spielt in den heutigen Lehrplänen eigenverantwortliches Lernen eine wichtige Rolle. „Arbeiten die Schüler zum Beispiel in Gruppen zusammen, meldet sich der Betroffene halt nicht als Schreiber.“

Jugendliche, deren Schwäche auffällt, nehmen zwar häufig am Förderunterricht teil. Damit der dauerhaft etwas bringt, müsse das Üben aber nach der Schule weitergehen, sagt Puschner. Oft kämen Schüler mit Lese- und Schreibschwäche jedoch aus Familien, in denen schon die Eltern Probleme damit haben. Und in ihrer unmittelbaren Alltagswelt kämen sie auch so gut zurecht: Beim Schreiben über WhatsApp oder andere Mitteilungsdienste ersetzen Emojis ganze Sätze. Die Spracherkennung am Smartphone hilft auch.

Ihre Partner erledigten das Schriftliche

All das gab es noch nicht, als Jutta Braun 1983 mit 16 Jahren aus Rheinland-Pfalz nach Augsburg kam. Ihre Schwester wohnte hier. Ab diesem Zeitpunkt hatte sie wechselnde Beziehungen. Die meisten Männer waren nicht gut für sie, aber wenigstens beim Lesen und Schreiben eine Hilfe. Versicherungen, Mietverträge, Amtsgeschäfte: „Das Schriftliche haben immer sie gemacht.“

Doch selbst wenn sie Single war, flog ihre Schwäche nicht auf. Mal vergaß sie angeblich ihre Brille. Auf Ämtern gab sie vor, die komplizierten Texte in Dokumenten nicht zu verstehen. Sie kam sogar damit durch, als sie ihre jüngste Tochter Yvonne im Kindergarten anmeldete. „Den Namen hatte ich aus dem Song von Roger Whittaker: ,Saharaheiß – Alaskakühl, Yvonne ist beides…‘“ Wie man ihn schreibt, wusste Braun bei der Geburt nicht. „Irgendwas mit Y.“

Einschränkung hielt sich in Grenzen

Ihre Schwäche, sagt Braun, habe sie nie genug eingeschränkt, als dass sie etwas dagegen unternommen hätte – nicht einmal im Job. Abschlussprüfungen musste sie an der Sonderschule nicht schreiben, begann stattdessen in Augsburg eine Lehre als Malerin und Lackiererin. „Weil ich die praktische Arbeit gut gemacht habe, haben sie mir den Abschluss gegeben“, sagt sie. Gearbeitet hat sie in diesem Beruf nie, in der Ausbildung wurde sie zum ersten Mal schwanger.

Ein Faible für Farben und Dekoration hat sie immer noch. In ihrem Rücken steht der kleine, golden dekorierte Christbaum, auf dem Regal ein Adventskalender. „Merry Christmas“ steht darauf. Nur die Aufkleber der „Hasenschule“ am Kühlschrank passen nicht so recht dazu.

„Das kriegen wir schon hin“

Der Job, in dem es Jutta Braun am längsten hielt, war in der Kantine eines Großunternehmens. Ihrem Chef und dem Koch habe sie damals sogar von ihrer Lese- und Schreibschwäche erzählt. „Sie meinten, das kriegen wir schon trotzdem hin.“

Jutta Braun wusste, was sie zu tun hatte. Wer Wurstplatten herrichtet, muss nicht schreiben.

Das ist in vielen Berufen so. Die Hamburger Bildungsforscherin Wibke Riekmann sagt, viele Analphabeten hätten das Schreiben im Lauf ihres Lebens schlicht verlernt.

Rieckmann war 2011 eine der Wissenschaftlerinnen im Forschungsteam der Hamburger Analphabetismus-Studie. Sie erinnert sich noch gut: „Als sie unsere Aufgaben beantworten sollten, haben viele der Befragten gesagt: ,Oh Gott, ich hatte seit 30 Jahren keinen Stift mehr in der Hand.‘ Wenn Menschen im Alltag nicht lesen oder schreiben, bleibt ihnen auch das Wissen darum nicht erhalten.“ Man spreche in solchen Fällen von Schriftferne.

Nur wenige unternehmen etwas gegen ihre Schwäche

Doch nur ein „verschwindend geringer Teil“ der Betroffenen ringe sich dazu durch, etwas gegen ihr Problem zu tun, sagt Tobias Bumblat, der bei der Volkshochschule (VHS) München den Fachbereich Alphabetisierung und Grundbildung leitet.

Die Volkshochschulen in Bayern sind die größten Anbieter für Lernkurse. 370 Angebote sind es heuer im Freistaat, das Kultusministerium übernimmt 90 Prozent der Pauschalkosten. Trotzdem, sagt Bumblat, kämen nur wenige Teilnehmer von allein. Die meisten seien Arbeitslose, die von den Jobcentern vermittelt werden.

„Ich war einfach zu bequem“

Bei Jutta Braun hat es lange gedauert, bis es so weit war. Die Augsburgerin wechselte oft den Job. Manchmal habe sie sogar mit den Vermittlern von Bildungszentren oder dem Arbeitsamt über ihre Probleme gesprochen.

Hin und wieder sei auch das Wort „Alphabetisierungskurs“ gefallen. Doch niemand animierte sie dazu, wirklich einen zu besuchen. „Die Ämter haben mir immer Sachen vermittelt, für die ich nicht lesen oder schreiben musste.“ Sie selber kümmerte sich auch nicht weiter um Hilfe: „Ich war einfach zu bequem.“

Dann kam Frau Zeh. Frau Zeh heißt mit Vornamen Angela, arbeitet noch heute beim Jobcenter der Stadt Augsburg und hat um 2010 herum Jutta Brauns Fall bearbeitet. Dank Frau Zeh habe sich in ihrem Leben viel verändert, sagt Jutta Braun. „Die hat mich erwischt.“ Frau Zeh fragte Jutta Braun ganz direkt, ob sie lesen und schreiben könne. Jutta Braun hat aufrichtig geantwortet: „Nicht unbedingt.“

Mit Mitte 40 lernt sie Lesen

Mit Mitte 40 ließ sie sich überzeugen, es endlich zu lernen. Sie bekam Einzelunterricht bei einer Partner-Einrichtung des Jobcenters, lernte Wörter erst ganz langsam und bewusst auszusprechen; dann, sie nach Silben zu trennen. Alles Schritt für Schritt. Schon nach drei Monaten konnte sie genug für den Alltag.

Jetzt, sechs Jahre später, läuft es schon ziemlich gut. Fehlt nur noch ein richtiger Job. Jutta Braun steht vom Tisch auf und holt die rosa Brille mit nur einem Bügel aus dem Schlafzimmer. Dann kramt sie ihren großen Atlas hervor und liest nur ein bisschen holprig ein paar Sätze aus dem Kapitel „Südamerika“ vor. „Das interessiert mich.“

Auf dem Tisch liegt ein Kuvert mit der Adresse des Jobcenters in Schreibschrift. Jutta Braun zieht unter ihrem Christbaum das Weihnachtspaket für ihre Arbeitskollegin hervor. „Frohe Weihnachten“ steht auf dem Geschenkanhänger. Außerdem, mit Kugelschreiber und in ziemlich großen Buchstaben: „Liebe Grüße, Jutta.“

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