30 Jahre nach Tschernobyl: Wildschweine noch immer verstrahlt
Auch 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind Wildschweine noch immer radioaktiv belastet. Vor allem Bayern ist stark betroffen. Müssen sich Verbraucher sorgen?
Es ist der 26. April 1986. Im ukrainischen Tschernobyl explodiert Block 4 des Atomkraftwerks und schleudert radioaktives Material in die Atmosphäre. Wind treibt die Wolken nach Westen, wo am 1. und 2. Mai regional schwere Gewitter mit Starkregen niedergehen. In Bayern sind Landstriche in Schwaben, hier vor allem in den Kreisen Augsburg und Aichach-Friedberg, im Bayerischen Wald und im Süden Oberbayerns besonders betroffen. Spielplätze werden gesperrt, Sandkästen geleert, Kinder dürfen nicht mehr draußen toben, Hausbesitzer laufen mit Geigerzählern durch die Gärten. Der Super-Gau von Tschernobyl verändert das Leben der Menschen.
Katastrophe von Tschernobyl: Folgen sind noch heute zu messen
Auch 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe sind die Folgen noch immer zu messen. Vor allem beim Schwarzwild und bei Pilzen liegen Becquerelwerte nach wie vor um ein Vielfaches über dem Grenzwert. Helmut Rummel, früher Strahlenbeauftragter der Bundeswehr und heute Rentner, hat aufwendig recherchiert und in ganz Bayern Daten zur radioaktiven Belastung von Wildschweinen gesammelt. Sein Resultat: 208 Mal lagen die Messergebnisse über 10000 Becquerel pro Kilogramm. Dem bayerischen Umweltministerium wirft der Murnauer vor, die Verbraucher über die teilweise extremen Messwerte nicht zu informieren. Es ergebe sich ein Bild, so Rummel, „das mit der tatsächlich vorhandenen Wildschweinbelastung in Bayern nichts, aber auch gar nichts zu tun hat“.
Das Ministerium weist die Vorwürfe zurück und betont, die primäre Verantwortung dafür, dass die Grenzwerte eingehalten werden, liege bei den Jägern, die das Wildbret in den Handel bringen. Die amtliche Lebensmittelüberwachung führe dabei stichprobenweise Überprüfungen durch, sagt Ministeriumssprecher Stefan Zoller. „Wir haben keine Hinweise darauf, dass die Jäger ihrer Verantwortung nicht nachkämen.“
Der Bayerische Jagdverband hat im Freistaat mittlerweile in Eigenregie und mit hohen Kosten 111 Messstellen eingerichtet und damit das bundesweit dichteste Netz aufgebaut, wie Hauptgeschäftsführer Joachim Reddemann betont. Die internationale Station in Mauth im Bayerischen Wald werde inzwischen auch von tschechischen Jägern genutzt. Mit den Messungen soll sichergestellt werden, dass nur einwandfreies Fleisch auf den Teller der Verbraucher kommt. Wird der Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm überschritten, darf das Wildbret nicht mehr in den Handel – es gilt als „genussuntauglich“ und muss nach den strengen deutschen und europäischen Fleischhygienerichtlinien vernichtet werden.
Radioaktive Belastung von Wildschweinen liegt auch an ihrer Ernährung
Für Tiere, die entsorgt werden müssen, können die Jäger einen Schadensausgleich beim Bundesverwaltungsamt beantragen. Für einen Frischling erhalten sie 100 Euro, für ältere Wildschweine 200 Euro. 2015 seien in Bayern knapp 4000 Anträge gestellt worden, sagt Reddemann. Die Zahl könnte noch höher sein, doch vielen Jägern sei der bürokratische Aufwand zu groß.
Nicht nur der Jagdverband, auch die Bayerischen Staatsforsten führen bei jedem erlegten Schwarzkittel Messungen durch. Im Jagdjahr 2015/2016 mussten demnach in Zusmarshausen 107 Sauen entsorgt werden, sagt Forstbetriebsleiter Hubert Droste. 350 Sauen wurden geschossenen, so viel wie noch nie. Die Grenzüberschreitungen hätten überwiegend im Bereich zwischen 600 und 4000 Becquerel pro Kilogramm Wildbret, im Ausnahmefall jenseits von 10000 Becquerel gelegen. Von Revier zu Revier seien die Strahlenbelastungen sehr unterschiedlich. Droste: „Wir kommen unserer Sorgfaltspflicht nach und wollen mit qualifizierten Messungen – stichprobenartig auch beim Rehwild – ein Stück Vertrauen schaffen.“
Die Cäsiumbelastung betrifft zu 99 Prozent das Schwarzwild, sagt der Präsident des Bayerischen Jagdverbandes, Jürgen Vocke. Dass in erster Linie Sauen nach wie vor radioaktiv belastet sind, liegt an der Ernährung der Tiere. Neben den Früchten von Buche und Eiche, Mäusen, Würmern und Engerlingen wühlen sie im Waldboden gerne nach Pilzen wie dem Maronenröhrling oder knollenartigen Hirschtrüffeln. Diese Pilze reichern strahlendes Cäsium 137 besonders stark an. In sogenannten Mastjahren, in denen die Wildschweine vor allem Eicheln und Bucheckern fressen, beobachte man dagegen eine deutlich geringere Belastung, sagt Joachim Reddemann vom Jagdverband.
Eine Entwarnung gibt es gleichwohl auch 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nicht. Die Halbwertszeit von Cäsium 137 beträgt exakt 30,2 Jahre. Dann ist erst die Hälfte der radioaktiven Substanz, die 1986 niedergegangen ist, zerfallen.
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