Augsburger Palliativ-Netzwerk: "Wir geben den Tagen mehr Leben"
Bislang erreichen Palliativmediziner in Deutschland nur jeden zehnten unheilbar Kranken. Ein deutschlandweit einzigartiges Netzwerk in Augsburg will das für die Region nun ändern.
40 mal 80 Kilometer, so groß ist das Einsatzgebiet des Palliativmediziners Eckhard Eichner. Mit vier weiteren speziell ausgebildeten Ärzten und zehn besonders geschulten Pflegekräften betreut die gemeinnützige GmbH des Vereins Augsburger Hospiz- und Palliativversorgung (AHPV) unheilbar schwer kranke und sterbende Menschen in der Stadt und dem Kreis Augsburg. Er formuliert es so: „Wir geben dem Leben nicht mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben.“
„Leben bis zuletzt“ – unter diesem Titel ehrte Gesundheitsministerin Melanie Huml im Augsburger Rathaus jetzt die Arbeit des Vereins. Das 300-seitige Rahmenkonzept, das über hundert Mitstreiter Eichners verfassten und anlässlich des Festaktes gestern vorstellten, nannte Huml vorbildlich. Von diesem Netzwerk und seinen über 50 Organisationen aus Pflege, Wohlfahrtsverbänden, Krankenhäusern, Hospizvereinen und Apothekern, Ausbildungsstätten, Malteser Hilfsdienst und Seelsorgern könnten andere Regionen Bayerns lernen, damit Schwerstkranke überall möglichst gut und selbstbestimmt bis zum Ende leben können.
Eichner will den Markt nicht profitorientierten Unternehmen überlassen
Eichner war Internist, Anästhesist und Oberarzt im Klinikum Augsburg. 2011 schloss er eine zweite Doktorarbeit am Institut für Organisationsethik und Palliative Care in Wien ab. Bereits 2007 gründete er im Klinikum eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, um das damals neue Gesetz zum Anspruch auf „Spezialisierte ambulante Palliativversorgung“ in der Region umzusetzen. Das Gesetz ermöglicht gesetzlich Versicherten, am Lebensende zu Hause betreut zu werden – und zwar von spezialisierten Pflegeteams. Auch private Versicherungen erstatten Kosten seit dem neuen Palliativgesetz von 2015 meist.
Wenn Krankenkassen neue Leistungen wie diese aufnehmen, sind profitorientierte Dienstleister nicht weit. Dieser Ökonomisierung wollten die Augsburger Aktivisten vorbeugen. „Wir waren der Überzeugung, dass das nicht allein dem Markt überlassen werden sollte“, erklärt Eichner. „Wenn wir eine lebensbejahende Palliativversorgung dort haben wollen, wo wir leben und auch sterben werden, müssen wir uns selbst kümmern und möglichst viele Einrichtungen und zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse einbinden.“ Mit diesen Überlegungen hoben er und seine Mitstreiter 2009 den Verein AHPV aus der Taufe, in dem inzwischen 30 Institutionen aus der Region organisiert sind. Zusätzlich baute Eichner eine gemeinnützige GmbH auf, die in Augsburg als bisher einziger Dienstleister auf die Begleitung sterbender Patienten zu Hause ausgerichtet ist. Rund 500 Menschen betreuen Eichner als leitender Arzt und seine Kollegen pro Jahr, 450 von ihnen bis zum Tod. Zum Vergleich: In Landsberg existiert bisher kein solches Angebot, in Kaufbeuren laufen die Vorbereitungen gerade an. „Ganz schlecht sieht es im ländlichen Raum wie im Bayerischen Wald aus“, weiß Eichner. Das heiße nicht, dass Sterbende hier allein gelassen werden. „Viele Hausärzte sind in dieser existenziellen Situation rund um die Uhr erreichbar, lindern Symptome und geben Sicherheit. Aber ich denke, die Kommunen sollten sich für Strukturen und für eine professionelle und intensivere Begleitung solcher Menschen starkmachen.“
Bis jetzt wird nur jeder zehnte unheilbar Kranke erreicht
Auch bei den Hospizvereinen, den Pionieren in der palliativen Betreuung, ist die Region in und um Augsburg gut aufgestellt. In Stadt und Kreis sind insgesamt acht solcher Gruppen aktiv, die mit ihren ehrenamtlichen Helfern Kranke zu Hause und in Pflegeheimen bis zum Tod begleiten. In Meitingen befindet sich eine neue Hospizgruppe in Gründung, die Vereine in Zusmarshausen, Welden, Königsbrunn und Bobingen werden derzeit ausgebaut. In Augsburg engagieren sich der Verein Albatros und das St.-Vinzenz-Hospiz. Letzteres wird seine stationären Kapazitäten 2017 von neun auf 14 Betten erhöhen. „Wir wollen einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung und nicht mehr nur – wie bis jetzt – jeden zehnten unheilbar Kranken erreichen“, sagt Eichner. Es gehe um alle, die „am unvermeidlichen Ende eine intensive medizinische und psychosoziale Begleitung wünschen“.
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