Den Opfern einen Namen geben
In Kloster Irsee traf sich der Arbeitskreis zur Erforschung der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation zu einer Tagung, um die Erinnerung an die Verbrechen wachzuhalten
Irsee Es geht darum, den Opfern Namen zu geben. Darum, die Menschen hinter den menschenverachtenden Aktenvermerken und Notizen zu nennen. Zehntausende fielen während des Dritten Reiches der NS-„Euthanasie“ zum Opfer. Doch bis auf eine paar tragische Einzelschicksale sind die meisten Namen der Öffentlichkeit unbekannt. Am Wochenende nahm sich der Arbeitskreis NS-„Euthanasie“ bei einer Tagung in Kloster Irsee diesem Thema an.
Nach Michael von Cranach, zwischen 1980 und 2006 ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren und federführend bei der Aufklärung der nationalsozialistischer Vergangenheit der Einrichtung beteiligt, wäre eine Veröffentlichung der Opfernamen der Krankenmorde zwischen 1939 und 1945 ein großer Schritt bei der Aufarbeitung dieses Teils der deutschen Geschichte. Es sei wichtig, „dass die Betroffenen als Opfer wahrgenommen werden und man ihnen eine Identität gibt.“ Bislang gestaltet sich das jedoch oftmals schwierig.
Für die Erfassung der Opfer der NS-„Euthanasie“ sind umfangreiche Recherchen nötig. Das Problem: Liegen die Krankengeschichten oder andere Quellen in Krankenhausarchiven, stehe selbst heute noch die ärztliche Schweigepflicht einer Veröffentlichung entgegen. Ähnlich verhalte es sich mit dem Archivrecht, das zum Tragen kommt, wenn die Akten außerhalb medizinischer Einrichtungen gelagert sind. In Deutschland gibt es bislang wenige Orte, in denen sich Kommune, Krankenhäuser und die zuständigen Archive dennoch auf eine Veröffentlichung der Namen in Gedenkbüchern oder Mahnmälern einigen konnten. Zumal auch immer wieder Widerstand von den Angehörigen der Opfer komme. Für eine Veröffentlichung müssten deren Ansprüche und die Auffassungen der Krankenhäuser und Archive mit dem öffentlichen und historischen Interesse sowie dem mutmaßlichen Willen der Opfer abgewogen werden. Für eine Veröffentlichung könnte sprechen, dass es zur Wiedererlangung der zerstörten Würde wohl „jedem wichtig wäre, als Subjekt einer staatlichen Mordaktion anerkannt zu werden“, so von Cranach.
In jedem Fall sei es wichtig, mit allen Beteiligten einen offenen Diskurs über entsprechende Projekte zu führen, betonte der Münchner Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf. Aktuell arbeitet der Arbeitskreis dort an der Veröffentlichung von rund 1500 bis 2500 Namen von Patienten, die in den Anstalten Grafeneck, Hartheim und Eglfing-Haar getötet wurden. Auch in Irsee wird über ein entsprechendes Totenbuch nachgedacht.
Der Arbeitskreis zur Erforschung der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation, der seit 1983 besteht, ist eine lose Verbindung aus 250 Medizinern, Historikern, Pflegenden, Theologen und Angehörige der Opfer, der zweimal im Jahr zu Tagungen zusammenkommt. Auf Einladung des Bildungswerkes des Verbandes der bayerischen Bezirke trafen 85 Mitglieder erstmals im Kloster Irsee zusammen, wo zwischen 1939 und 1945 in den Räumen der einstigen Heil- und Pflegeanstalt ebenfalls „Euthanasie“-Verbrechen stattgefunden hatten.
Die Schwerpunkte der dreitätigen Veranstaltung bildeten neben der Diskussion zur Veröffentlichung der Opfernamen auch die regionale „Euthanasie“-Geschichte. Kritik wurde vor dem historischen Hintergrund der Veranstaltung am „selektiven Blick“ der umstrittenen Präimplantationsdiagnostik (PID) geäußert. Es sei ein ähnliches Denken in „lebenswert und lebensunwert“ wie damals zu erkennen, so Michael Wunder, Mitglied im Deutschen Ethikrat.
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