Depeche Mode in München: Die verzwergten Pop-Riesen
Ein Abend mit Depeche Mode in München: 60.000 erleben im Olympiastadion ein kleines Wunder und eine überraschende Verkleinerung. Die Kritik zum Konzert.
Als sich das kleine Wunder abzuzeichnen beginnt, ist eigentlich klar: Hier kann nichts mehr schiefgehen. Auf die 60000 Zuschauer, die an diesem Freitagabend ins Münchner Olympiastadion gekommen sind, wartet ein Konzert-Ereignis. Denn bei Depeche Mode ist ja schon längst nicht mehr die Frage, ob diese Götter des Elektro-Pop eine gute Mischung aus Songs arrangieren werden – sondern eigentlich nur noch, für welche Auswahl ihrer vielen Hits aus inzwischen 35 Karrierejahren sie sich entschieden haben. Und nachdem auch das aktuelle Album „Spirit“ zudem weiteres sehr feines Material liefert und Sänger Dave Gahan statt sich selbst dann doch seine Krisen im vergangenen Jahrtausend begraben hat und seitdem zuverlässig als freudiger Matador durch die Abende tanzt…
Eben. Eigentlich: Was sollt noch schiefgehen, als dann um 20.30 Uhr ein Regenbogen über dem sehr gut gefüllten, aber nicht ausverkauften Oval das Zeichen auf Wunder setzt, dass der Regen nämlich gerade rechtzeitig vorbei ist und auch nicht wiederkehren wird in den zweieinviertel Stunden mit dem Riesen-Dreier aus Gahan und Martin L. Gore und Andrew Fletcher (live ergänzt wie seit langem durch die Instrumentalisten Christian Eigner und Peter Gordeno)?
Depeche Mode in München: Die Texte sagen ohnehin alles
Aber dann passiert etwas Merkwürdiges. Und nein, es ist nicht, dass Depeche Mode nach dem politischsten Album ihrer Karriere nun meinten, hier die große Bekenntnis-Show abzuliefern und einzufordern. Fletcher bleibt ohnehin stumm im Hintergrund am Synthie, Gore in einer Art knallrotem Blazer und mit schwarz lackierten Fingernägeln an der Gitarre sagt höchstens hallo und danke, und Zeremonienmeister Gahan seufzt und stöhnt immer schon mehr, als dass er spricht, wiegelt das Publikum lieber mit seinen Po-Wacklern und Kreiseln samt Mikrofonständer auf – und das ist gut so. Die Texte sagen ohnehin alles und genug. Eine schöne Idee ist es da auch gleich mit dem Opener des neuen Album zu beginnen, „Going Backwards“, das uns, bewaffnet mit Hochtechnologie, wieder auf dem Weg zurück in die Höhlen des Patriotismus sieht – auch schön, weil der Song musikalisch so wunderbar zeigt, wie es Depeche Mode selbst gelungen ist, mit neuen technischen Mitteln an den Legenden-Sound der Achtziger anzuknüpfen, ohne zurückzugehen. Und nett auch, dass der große Dave die erste Strophe noch aus dem Off singt, bevor er zum ersten Refrain auch auf die Bühne tritt. Eigentlich.
Denn das Merkwürdige eben ist: Sie bleiben bloß Zwerge in diesem Riesen-Oval des Olympiastadions. Und das liegt nicht bloß daran, dass zu diesem ersten Song auf den Videowänden nicht ihre Vergrößerungen erscheinen, sondern bloß Farbkleckse, die sich nach und nach lichten und zum Ende des Songs einer schwarzen Fläche gewichen sind. Zum folgenden „So Much Love“ läuft noch ein Musikvideo über die Schirme, bei „Barrel of a Gun“ aber sind die Herren für die meisten Menschen im Rund endlich mehr als Ameisen – und doch nicht. Denn nicht nur ist die Ausrüstung auf der Bühne minimal, auf Vorgruppen-Niveau, nicht nur sind die Kamerabilder von den Helden minimal inspiriert – auch die Bühne selbst ist für eine Arena dieser Größe absolute Mindestgröße, mit Mini-Steg und weit nach hinten in die Kurve gepresst. Schon klar, dass es nicht zu Depeche Mode passen würde, hier ein kunterbuntes Blink- und Medienspektakel abzufackeln wie wenige Tage zuvor an selber Stelle Coldplay, mit Megabühne auf der Längsseite. Aber das hier ist dann doch so dürftig, dass die Helden im Großteil des Stadions eigentlich gar nicht wirklich präsent sind. Und das wird auch nur ein bisschen besser, als es dann endlich dunkel ist, weil auch dann von dieser Bühne kaum Ausstrahlung ausgeht und andersrum die Masse im Oval kaum durch Beleuchtung sichtbar wird.
Ein bisschen was geht schief
Und bevor es zum natürlich trotzdem angebrachten Abfeiern geht, gleich noch die übrigen Mäkeleien. Ob es angesichts dieser Präsenzflaute so schlau ist, nach „World in My Eyes“, das nach immerhin 45 Minuten erstmals richtig dichte Stimmung ins weite Stadion bringt, mit „Cover Me“ gleich wieder zu drosseln? Und ob – eine obligatorische Verneigung vor Bowie nach dessen Ableben, klar –„Heroes“ in den Zugaben wirklich das richtige Cover für Depeche Mode ist? War die melodische Umgestaltung von „A Pain That I’m Used To“ nicht eher ungelenk? Und schließlich: Sind die gelegentlichen Videos auf den Wänden der dank Anton Corbijndoch sonst immer so geschmackssicheren Gruppe diesmal nicht eigentlich ästhetisch schwächlich, die albernen Zeichenschnipsel zu „Where’s the Revolution“ ebenso wie diese Filmchen, etwa in den Zugaben zu „Walking in My Shoes“, in dem sich ein Mann dann bedeutungsschwer zum Ausgehen als Frau zurechtmacht?
Es geht also doch ein bisschen was schief, nicht nur in München, sondern wohl auf dieser ganzen Tour, denn das Set ist überall gleich – und wird freilich trotzdem ein schöner Freitagabend. Denn Depeche Mode bleiben eben doch Riesen. Martin Gore hat mit allen seinen drei Songs dieses Programms wirklich große Auftritte, mit „A Question of Lust“ und gleich danach „Home“ und zum Auftakt der Zugaben mit dem unverbrüchlichen Romantikwunder „Somebody“. Und Dave Gahan singt inbrünstig und gut, wackelt und wirbelt wundervoll etwa zum Abschluss vor den Zugaben hintereinander „Stripped“, „Enjoy the Silence“ und „Never Let Me Down Again“. Herrlich. Und was zwischendurch „Everything Counts“ und ganz am Ende „I Feel You“ und „Personal Jesus“ mit 60000 Menschen auf einem Depeche-Mode-Konzert anstellen, das ist dann doch jedes Mal und immer wieder zuverlässig auch: ein kleines Wunder. Drum, wenn Dave – inzwischen 55, gut in Form und natürlich fast von Anfang an obenrum nur noch mit armfreier Weste, ohne die Jacke des Anzugs – zum Abschluss ruft „See you next time“: ganz bestimmt. Die Ovationen vor den Zugaben und nach dem Ende waren sowieso ohrenbetäubend.
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Hallo,
ich ich war beim Konzert von Depeche Mode in München und vieles – sowohl von dem was Wolfgang Schütz für die AZ schreibt und marcus Lachmund erwidert – sehe ich auch so. Das Konzert war klasse – Punkt! Der Sound phantastisch, was einer Band, die mehr über der Wirkung der Musik als über Effektive kommt, nur recht sein kann. Die schwächeren Stellen in der Setlist, die Wolfgang Schütz nennt, empfand ich ähnlich. Das ist aber auch bloß Jammern auf höchstem Niveau. Und als Fan muss man dann vielleicht auch mal sagen/darüber nachdenken, dass die Band entscheidet und sich sicherlich etwas dabei gedacht hat. Am Artikel von Wolfgang Schütz habe ich vor allem das auszusetzen, was ich der AZ immer wieder ins Stammbuch schreiben will/würde: mehr Berichterstattung und weniger Meinungsmache – denn was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid!? Aber das ist die ganz große Schwäche dieser Zeitung.
Viele Grüße und beim nächstens DM-Konzert in München bin ich bestimmt wieder dabei
Karsten Lentge
Schütz(en)-Fest in München: Fehlschuss mit Ansage
Berechenbarkeit kann etwas gutes, beruhigendes sein. Bei einem Musikjournalisten sieht das ein klein wenig anders aus. Objektivität und Unvoreingenommenheit bleiben da schnell auf der Strecke, von einem spannenden, weil überraschenden Artikel mal ganz zu schweigen. Jetzt ist es natürlich längst kein Geheimnis mehr, dass Herr Schütz mit eher melancholisch und düster angehauchter Musik so seine Probleme hat. Die letztjährigen, in Fankreisen äußerst positiv aufgenommenen Konzerte der Szene-Größen „Placebo“ und „The Cure“ fanden bei ihm wenig Gegenliebe, der er mit teils kruden Argumenten Nachdruck verleihen wollte. Wem dieser Beleg noch nicht genügt, der muss sich nur - quasi als Umkehr-Beweis - die Doppel!-Eloge auf das Coldplay-Konzert vom vergangenen Mittwoch zu Gemüte führen. Dort zeigte er sich ekstatisch euphorisiert von einer kunterbunten Lichtershow, mit der die längst im Familien-Mainstream angekommenen Briten ihre zunehmend belangloser gewordenen Liedchen ins weite Rund des Olympiastadions trällerten. Gut, Chris Martin mag eine netter Kerl sein, aber eine Rampensau des Rockzirkus, oder zumindest ein charismatischer Frontman war er nie und wird er auch nie mehr werden. Spricht man mit der Band wohlgesonnen Besuchern des München-Gigs hört man häufig das nicht gerade enthusiastische „nett“ und das vielsagende „geile Lightshow“. Ansonsten lies man sich in gemütlicher Atmosphäre von der deutlich mehr Schlager- als Rock-affinen Musik durch den regnerischen Abend schunkeln. Klar, Geschmäcker sind halt verschieden und manchen reicht auch das.
Nun weilte unser Autor nur zwei Tage später an gleicher Stelle, nur ging es diesmal weit weniger gemütlich und gefällig zu. Die gern als Synthie-Pop-Götter bezeichneten Depeche Mode - in Wirklichkeit haben sie ihr eigenes Genre kreiert, das sich in keine Schublade stecken lässt - sind in jeder Hinsicht ein ganz anderes Kaliber als Coldplay (die sich übrigens schon mehrfach als eingefleischte Fans „outeten“ und auch schon wiederholt als Konzertbesucher gesichtet wurden). Die neben U2 inzwischen einzig relevante Band der 80er Jahre verfügt über einen solchen Fundus an evergreenartigen Hymnen, dass sie auch fünf Stunden spielen könnten und noch immer den ein oder anderen Hit schuldig bleiben müssten. Vor allem aber sind sie trotz ihres Synthie-Fundaments eine fulminante Liveband, die ihm wahrsten Wortsinn „rockt“. Dieses Phänomen zeigte sich auch gestern wieder in München, als sich bereits zum Auftaktsong „Going Backwards“ die Zuschauer von ihren Sitzen erhoben. Es zeigte sich auch daran, dass selbst die brandneuen Songs des aktuellen Albums „Spirit“ textsicher mit intoniert wurden und die deutlich ruhiger gehaltene erste Konzerthälfte bejubelt, beklatscht und betanzt wurde. Sänger Dave Gahan war selbst für seine Verhältnisse enorm in Fahrt und bewies erneut, dass die häufig kolportierten Vergleiche mit Freddie Mercury und Mick Jagger nicht von ungefähr kommen, obgleich er dieser gar nicht bedarf. Spätesten ab Konzertmitte - eingeläutet mit der aktuellen Single - „Where´s the Revolution“ - gab es dann kein Halten mehr. Mit „Wrong“, „Everything Counts“, „Stripped“, „Enjoy the Silence“ und „Never let me down again“ knallten Depeche Mode eine Breitseite von Stadionkrachern ins beglückte Rund, deren 34-jährige Spannbreite so ganz nebenbei auch dem letzten Nörgler/Zweifler klar machte, warum der inflationär missbrauchte Begriff „Kult“ an dieser Stelle sprichwörtlich ins Schwarze trifft.
Und Herr Schütz? Tja, den ikonenhaften Status der Band, die energetische Rock-Show ihres Frontmannes, Martin Gores grandiose Songwriting- und Balladen-Qualitäten, die Vielzahl zeitloser Pop-Hymnen, die innige Liebe der „Devotees“, all dies lässt sich nicht ohne Blamage klein schreiben. Der Autor ist klug genug, um diesen Treibsand zu umgehen. Aber irgendwas muss gefunden werden, also kommt er auf das pseudo-geniale Wortspiel „Die verzwergten Pop-Riesen“ und zieht an dieser bemüht-verkrampften Fabulierungskunst seinen ganzen Text auf. Natürlich kann man kritisieren - und in Fankreisen wird das schon seit mindestens 2009 diskutiert -, dass der Bühnenaufbau für ein Stadionkonzert grenzwertig überschaubar ist. Auch die extra wieder neu von Haus- und Hof-Art Director Anton Corbijn erstellten Projektionsvideos sind erneut teilweise etwas merkwürdig und zeigen die kreativen Grenzen des holländischen Multitalents, dem allerdings auch U2 seit Jahrzehnten vertrauen. Man kann all dies aber genauso als klares Statement pro Musik und gegen Technikshow verstehen bzw. interpretieren. Depeche Mode - anders als eben Coldplay - brauche keinen technischen Schnickschnack, um die Massen zu begeistern, oder von wenig aufregenden Songs abzulenken. Und Herr Schütz, „Cover me“ - was übrigens bereits viele Global-Spirit-Tour-Konzerte bewiesen hatten - war nach „World in my Eyes“ kein Stimmungs-Drossler, ganz im Gegenteil. Das sich steigernde Elektrogewitter nach dem ruhigeren Gesangsteil ist ein wahres Tanz- und Rhythmusbrett. David Bowies „Heroes“ passte wunderbar in den Zugabenteil, wurde stimmig in den Band-typischen Sound übertragen und von Bowie-Bewunderer Gahan inbrünstig vorgetragen. Klar ein Höhepunkt des Abends. Und die „ungelenke musikalische Umgestaltung“ von „A Pain that I´m used to“ ist der unter Fans extrem beliebte Goldfrapp-Mix - übrigens ebenfalls eine Band, die von Mute-Chef Daniel Miller entdeckt worden war -, der bereits auf der Delta Machine-Tour 2013/14 zu sehr gelenkigen Auswüchsen beim tanzgeneigten Publikum geführt hatte.
Vielleicht sollte sich der Autor einfach mal in den Front of Stage-Bereich vorwagen, anstatt ständig von der kilometerweit entfernten Pressetribüne aus, zumal unter garantiert nicht abfeiernden Schreiberling-Kollegen, das Haar in Konzertsuppen zu suchen, die für seien Geschmack zu scharf gewürzt sind. Ansonsten, liebe AZ, erkläre ich mich gern bereit hin und wieder für den gestressten/(genervten?) Kollegen einzuspringen. Aber nur, wenn ich im Gegenzug nicht zu Coldpaly oder Aerosmith muss, denn totale Unvoreingenommenheit - das wissen wir ja -, ist so leicht nicht. In diesem Sinne nichts für ungut Herr Schütz. Ihr Artikel ist wie immer gut geschrieben und launig formuliert, die Essenz des hervorragenden Depeche Mode-Konzerts vom Freitag trifft er allerdings leider nicht.