Der schwierige Weg vom Täter zum Autor
Ein 15-Jähriger aus Kempten hat seine "Memoiren" über eine kleinkriminelle Vergangenheit geschrieben. Von Barbara Hell
Was werden die anderen wohl über ihn denken? Ist er cool oder ein Idiot? Für den gerade 15 Jahre alt gewordenen Kemptener Till Batzdorf ist das Urteil, das andere über ihn fällen, noch immer wichtig.
Diesmal allerdings will er nicht von saufenden, klauenden und schulschwänzenden Jungs als cool bezeichnet werden. Diesmal geht es ihm darum, dass das Publikum bei der ersten Lesung aus seiner Biografie in Memmingen gut findet, was er zu sagen hat.
242 Seiten umfasst Tills Buch "Aufwachen", das der Junge im Alter von 14 Jahren über seine kleinkriminelle Vergangenheit und seinen Weg heraus aus der Perspektivlosigkeit geschrieben hat. Schonungslos, detailliert und wortgewandt schildert er, wie er als Elfjähriger nach der verhauten Aufnahmeprüfung zur Realschule in ein Milieu gerutscht ist, in dem er sich nur behaupten konnte, wenn er den "Gesetzen der Straße" gehorchte.
Till gibt Einblick in das Denken und die Sprache eines Jungen, der nach und nach lernt zu stehlen, ohne Ängste zu zeigen; sich zu betrinken und den ekligen Geschmack von Whiskey zu ignorieren; zu rauchen, obwohl das Risiko, beim Zigarettenklauen erwischt zu werden, die Knie schlackern lässt. Ein "Vorbild" auf dem Weg zum Schulschwänzen und Schlägern - ein Zeitvertreib, mit dem in der Szene geprahlt wird - ist sein älterer Bruder, dem er nach Kräften nacheifert.
Die Mahnungen und Bitten der alleinerziehenden Mutter und der Lehrer erreichen Till nicht mehr, der Weg erst auf die Polizeistation, dann in die Jugendpsychiatrie und später in ein Jugendheim im Westallgäu ist vorgezeichnet. Spannend wie ein Krimi liest sich dieser authentische Einblick in die Denkweise eines Jungen, der unter keinen Umständen als "Opfer" gelten will, als angepasster Streber, der jederzeit von den coolen Typen "gedappt", also niedergeschlagen werden kann. Wer verstehen will, wie solche Jugendlichen ticken, erfährt es in Tills Buch auch in der aggressiven Sprache dieses Milieus.
Was dann kommt, will der heute 15-jährige Junge - jetzt erwachsen und reif wirkend - nicht als Glück bezeichnen. Nach erneuten Abstürzen kommt Till über das Jugendamt mit dem anerkannten Träger der freien Jugendhilfe "weg-ev.de" mit Sitz in Memmingen in Kontakt.
Der Verein vermittelt ihn nach Italien in die Familie eines erfahrenen Jugendpädagogen. "Der Verein hat erkannt, wer mir helfen kann", sagt Till heute dankbar. In dem deutschen Pädagogen in Italien findet der Junge die Autorität, die er anerkennen kann. Der Mann weckt erst Tills sportlichen Ehrgeiz, um ihn dann behutsam auf den Weg der Selbsterkenntnis zu führen.
"Selbstwirksamkeit" nennt Jeremias Wiedemann, Vorsitzender des "Wegs", die Einsicht, nicht Spielball von Gefühlen und Abhängigkeiten zu sein, sondern selbst aktiv entscheiden zu können. Till beschreibt die Schlüsselszene für diese Erkenntnis packend und in der Sprache eines Jugendlichen - nicht im inzwischen erlernten Pädagogenjargon. Vordergründig geht es "nur" um die Frage, ob er duschen soll oder nicht. In Wirklichkeit aber geht es darum, ob er sein Leben selbst in die Hand nehmen will oder nicht.
Till nahm nicht nur sein Leben, sondern auch Schreibzeug in die Hand. Selbstständig schrieb er seine Autobiografie nieder, in seiner Sprache, mit den Rechtschreib- und Grammatikfehlern eines 14-Jährigen mit sehr lückenhafter Schulbildung. Lektorin Carin Hebel-Araya merzte grobe Schnitzer aus, die Worte blieben die von Till.
In der neu gegründeten „BücherWerkStatt“ fand der Kemptener dank der Beziehungen seines Betreuers Menschen, die seine "Memoiren" veröffentlichten. Im Publikum bei seiner ersten Lesung in Memmingen fand er Fans, die den neuen Till für viel cooler halten als den alten, den er heute als "Opfer" bezeichnet: nicht als Opfer der Gesellschaft, aber seines Umfelds und seiner damals "schlecht ausgebildeten Persönlichkeit". Heute nennt Till es cool, den qualifizierenden Hauptschulabschluss im nächsten Jahr zu erreichen. Und womöglich wird es ja auch etwas mit den Berufswünschen, später einmal Jugendpädagoge oder Redakteur zu werden. Von Barbara Hell
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