Die Sucht hinter Gittern
Seit 20 Jahren gibt es externe Suchtberater in bayerischen Gefängnissen. Sie retten Leben. Manchmal müssen sie aber auch dabei zusehen, wie Süchtige ins Verderben rennen.
Der Knast hat ihm das Leben gerettet. Vor allem diese Frau, die er dort kennengelernt hat. Da ist sich Jürgen Lehmann (Name von Redaktion geändert) sicher. Denn als er im vergangenen Jahr festgenommen wurde, war der heute 36-Jährige „drauf“. Alkohol, Kokain, Heroin – jahrelang trank, schnupfte und spritzte Lehmann alles Mögliche, um „high“ zu werden. Seine Drogenkarriere begann, als sich seine Eltern scheiden ließen. Mit elf Jahren landete er mit einer Alkoholvergiftung erstmals im Krankenhaus. Er begann zu rauchen, zu kiffen, härtere Drogen folgten.
„Sechs Jahre lang war ich zwischenzeitlich clean, 2012 bin ich rückfällig geworden und dann so richtig abgestürzt. Wäre ich nicht im Knast gelandet, wäre ich gestorben“, sagt er heute. Ein Gericht hatte den gebürtigen Allgäuer wegen Körperverletzung unter Drogeneinfluss zu einer 20-monatigen Haftstrafe verurteilt. So landete er in der Justizvollzugsanstalt in Kaisheim (Landkreis Donau-Ries) und traf dort auf Anicèe Jakob. „Wäre sie nicht gewesen, wäre ich heute tot“, sagt Lehmann und schiebt mit fester Stimme noch ein „hundertprozentig“ hinterher.
Jakob ist eine von vier Suchtberaterinnen der Drogenhilfe Schwaben und betreut im Schnitt rund 50 süchtige Häftlinge in den Gefängnissen in Kaisheim und Gablingen (Landkreis Augsburg). Vor 20 Jahren wurde es externen Suchtberatern erstmals erlaubt, Drogenabhängige in bayerischen Justizvollzugsanstalten zu besuchen. Mittlerweile werden bayernweit mehr als 55 Vollzeitstellen vom Gesundheitsministerium finanziert.
Jeder dritte Häftling hat sich Drogen gespritzt
Wie notwendig das ist, zeigt folgende Zahl: Experten gehen davon aus, dass rund 80 Prozent aller Häftlinge schon mal Erfahrungen mit Drogen gemacht haben. Und allein der Aufenthalt im Gefängnis bedeutet noch lange nicht das Ende der Drogenkarriere. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts hat sich jeder dritte süchtige Häftling schon einmal hinter Gittern Drogen gespritzt. „Wer will, kriegt auch im Knast alles, was er braucht“, weiß Lehmann. Der Rauschgifthandel innerhalb der Gefängnismauern sei ein einträgliches Geschäft. „Was draußen zehn Euro kostet, kostet drin 600 Euro“, erzählt Lehmann – die Nachfrage bestimmt auch im Knast das Angebot. Mangels Bargeld wird für die Bezahlung auf andere Währungen gesetzt. Tabak ist die Nummer eins. Auch Kaffee oder handwerklich hergestellte Produkte sind beliebt. Oder das Geld fließt über Umwege und Überweisungen an Dritte. „Da können sich die Wärter noch so anstrengen, den Handel mit Drogen werden sie nicht verhindern können“, sagt Lehmann.
Auch Anicèe Jakob weiß das. Auch sie kann gegen den Konsum hinter Gittern nichts zu tun. Es ist aber auch nicht ihr Job. Der besteht vielmehr darin, den Süchtigen zu helfen. Beim Umgang mit der Sucht. Bei der Suche nach ärztlicher Hilfe. Beim Stellen von Anträgen. Beim Anmelden für eine Therapie. Gleichzeitig haben sie und ihre Kolleginnen die vom Ministerium und den Kostenträgern auferlegte Aufgabe, herauszufinden, wer für eine Therapie tatsächlich geeignet ist, wer es ernst meint oder wer darin nur eine Möglichkeit sieht, schneller aus dem Gefängnis herauszukommen. „Wir lernen die Häftlinge in vielen Gesprächen sehr gut kennen“, erzählt Jakob. Das ist einerseits nötig, um den Süchtigen auch wirklich helfen zu können. Andererseits aber auch schwierig, wenn Emotionen ins Spiel kommen.
„Viele Häftlinge erzählen uns ihre ganze Lebensgeschichte, vertrauen uns Dinge an, die sie sonst niemandem erzählen würden. Das lässt einen nicht kalt“, erzählt Suchtberaterin Sonja von Klipstein, ebenfalls von der Drogenhilfe Schwaben, und erinnert sich an den Fall eines 40 Jahre alten Vaters. Monatelang habe sie ihn auf eine Therapie vorbereitet – kaum war er raus aus dem Gefängnis, wurde er an einem Augsburger Bahnhof schon wieder von der Polizei aufgegriffen. Vollkommen zugedröhnt. Einige Tage später starb er im Kaisheimer Gefängnis. Offenbar an einer Überdosis. „Da habe ich zwei Wochen lang geheult“, gibt von Klipstein zu.
Ziel ist es, den Häftlingen beizustehen
Vor Enttäuschungen wie diesen sind die Suchterberater nie gefeit. „Sucht ist eine lebenslange Krankheit. Wäre es unser Anspruch, jeden Süchtigen zu heilen, würden wir schon lange unter Burn-out leiden“, sagt von Klipstein. Ihr Ziel sei es daher, den Häftlingen beizustehen, ihnen zuzuhören, sich für sie einzusetzen und ihnen zu zeigen, welche Möglichkeiten es für sie gibt. Wenn einer ihrer Klienten eines Tages rückfällig werde, starte er im Bestfall zumindest nicht mehr bei null. „Er dreht dann eben eine Extrarunde – aber die Richtung stimmt schon mal“, erklärt von Klipstein.
Jürgen Lehmann dreht derweil bereits seine dritte Extrarunde. Zwei Therapien hat er in der Vergangenheit bereits abgebrochen, eine half ihm, sechs Jahre lang clean zu bleiben. Aktuell absolviert er seine vierte. Vor allem, weil Anicèe Jakob ihm „in den Hintern getreten“ habe. Dieses Mal will er es endlich schaffen, von den Drogen wegzukommen. Auch, um eines Tages seinen Sohn wiederzusehen. Der ist acht Jahre alt. „Momentan habe ich keinen Kontakt zu ihm. Ich muss mich komplett auf mich selbst konzentrieren und darf mich von nichts ablenken lassen“, sagt Lehmann. Anicèe Jakob sitzt ihm gegenüber. Sie nickt und sieht ihn mit einem eindringlichen Blick an.
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