Missbrauch gestanden: Kinderarzt Harry S. kämpft um seine Seele
Kinderarzt Harry S. spricht an den beiden ersten Verhandlungstagen offen über den Missbrauch von Jungen. Dabei wird deutlich: Die Pädophilie bestimmt seit Jahrzehnten sein Leben.
Hier ringt ein Mann um seine Lebensleistung, um sein Selbstwertgefühl, ja, um seine Seele. Harry S. will sich nicht eingestehen, dass die Pädophilie wahrscheinlich die letzten 20 Jahre seines Lebens bestimmt hat. Er versucht verzweifelt, diesen Gedanken von sich fernzuhalten. Aber es will nicht recht gelingen. Zu klar sind die Hinweise, dass seine krankhafte sexuelle Neigung zu kleinen Buben vieles von seinem Handeln gesteuert hat – zumindest unterbewusst.
Der Richter wird Harry S. im Tonfall gegenüber härter
S. versucht, diesen Teil seiner Seele von sich abzukapseln. Im Prozess sieht das dann am Dienstag aus, als ob er sich rausreden will. Er tut so, als sei er mehr oder weniger zufällig herumgefahren, dann tauchte auf einmal ein kleiner Junge auf und es kam über ihn. Oder die von ihm organisierten Kinderausflüge: In den ersten Jahren sei nichts Sexuelles passiert. Warum waren keine Mädchen dabei, fragt der Richter? „Ich hatte keine weibliche Betreuerin.“ Hat er sich um eine bemüht? Er hatte zum Beispiel Krankenschwestern des Augsburger Klinikums im Kopf. Wann hat er zuletzt konkret eine gefragt? „Ich weiß es nicht mehr genau, vielleicht 2012?“
Dem Vorsitzenden Richter Lenart Hoesch wird es irgendwann zu bunt. „Ich verstehe nicht, warum Sie jetzt in Randaspekten so rumeiern, wo sie doch die Taten im Kern schon zugegeben haben“, fährt er den Kinderarzt an. „Wenn sie nur auf kleine Buben stehen, dann sagen sie es halt jetzt.“
Der rüde Ton des Richters in diesem Moment hat einen gewichtigen Hintergrund: Zum einen hängt vom Geständnis des Harry S. ab, wie viele junge Opfer noch im Prozess als Zeugen aussagen müssen. Legt der Angeklagte ohne Wenn und Aber alle Karten auf den Tisch, kann die Jugendkammer manchen Opfern eine belastende Aussage ersparen. Eiert der Angeklagte in Details herum, um bei den Worten des Richters zu bleiben, ist das Gericht rechtlich gezwungen, diese Widersprüche und Unklarheiten durch Zeugenaussagen auszuräumen.
Kinderarzt wird wahrscheinlich in eine Psychiatrie übergeben
Zum anderen haben der Umfang und der Wahrheitsgehalt von Harry S.’ Einlassung entscheidenden Einfluss auf die Gutachten der Sachverständigen und auch auf die Höhe und die Art der Strafe. Je mehr ein Angeklagter auspackt, desto größer ist der Spielraum des Gerichts, die Strafe zu mildern. Harry S., 40, sagt von sich selbst, er sei pädophil. Die Psychiater werden irgendwann im Verfahren eine Ansicht dazu äußern müssen, ob der Kinderarzt durch diese krankhafte Neigung zu kleinen Jungs psychisch so gestört ist, dass er als vermindert schuldfähig zu gelten hat. Bei S. kommt statt eines Gefängnisaufenthalts eine Unterbringung in der Psychiatrie infrage. Und die Sachverständigen werden außerdem eine Prognose abgeben müssen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Harry S. eines Tages wieder Buben missbrauchen wird.
Bei all diesen Entscheidungen spielt es eine wesentliche Rolle, inwieweit sich der Angeklagte seinen seelischen Problemen stellt, sie akzeptiert und an ihnen arbeitet. Harry S. scheint erst auf dem Weg dorthin zu sein. Geht es um den konkreten Ablauf der Missbrauchstaten, gibt er sich erstaunlich offen. Er berichtet, dass er die Buben und sich ausgezogen hat, dass er sich an ihrem Penis zu schaffen machte, dass er auch Oral- und Analverkehr an ihnen ausgeübt hat.
Doch wenn Fragen auftauchen, wie es eigentlich zu den Situationen gekommen ist, wird die Aussage oft unpräzise. In einem der Fälle zum Beispiel, in denen er Buben auf der Straße angesprochen hat, konkret in der Dachauer Straße in München am 4. Juni 2012. In der Version des Kinderarztes ist er von der Arbeit im Deutschen Herzzentrum nach Hause gefahren, hat einen Buben gesehen, hat angehalten, ging zu einem Kiosk. „Ich bin dann wieder in mein altes Muster verfallen“, sagt S. Dann soll das Kind auf ihn zugekommen sein, er habe es angesprochen, erst in eine Hausnische gelockt und dann in einer Tiefgarage missbraucht und Fotos gemacht.
Es wirkt so zufällig, wenn der Angeklagte es erzählt. Doch als Staatsanwältin Maiko Hartmann nachhakt, klingt der Vorfall ganz anders. Auf ihre Fragen hin räumt S. ein, vorher das Haus, also den Tatort, bereits ausgekundschaftet zu haben. Es gibt auch eine Videoaufzeichnung, wie er in das Haus hineingeht und drei Minuten später woanders wieder herauskommt. Minutenlang wartete S. dann bewusst auf den Moment, bis der Junge ihm entgegenkam.
In der Version der Staatsanwältin wirkt das Vorgehen von Dr. Harry S. sehr viel zielgerichteter und systematischer. Es kommt auch zur Sprache, dass er nebenbei eine kleine Reiseagentur zur Buchung von Hotels, Flügen oder Tickets betrieben hat. Ausflüge mit Buben führten ihn zum Teil in Pensionen, von denen er für die Reiseagentur Vergünstigungen erhielt.
Harry S. kann seine Pädophilie möglicherweise noch nicht ganz akzeptieren
An diesen Nahtstellen vermischen sich die Parallelwelten des Harry S.. Er würde gerne seinen Beruf komplett von der Pädophilie abspalten. Im Augsburger Klinikum, wo er fast zehn Jahre lang gearbeitet hat, sei es nie zu Übergriffen gekommen. Andererseits gab S. dem Sohn seiner Partnerin aus seinem Notarztkoffer das Beruhigungsmittel Tavor, damit der Junge nicht mitbekommt, dass er sich an ihm vergeht.
Anklagevertreterin Hartmann stellt auch eine der Schlüsselfragen: Warum hat der Kinderarzt immer wieder Situationen herbeigeführt, in denen die Gefahr einer Missbrauchstat sehr hoch war? Bei der Übernachtung mit dem Sohn seiner Partnerin im Hotelzimmer, beim Herumfahren und Suchen nach Opfern, bei den Kinderausflügen.
Auf diese Frage hat Harry S. keine schlüssige Antwort. Möglicherweise ist er noch nicht so weit, seine Pädophilie mit allen Konsequenzen zu akzeptieren. Eine „echte“ krankhafte sexuelle Neigung zu Buben, eine sogenannte Kernpädophilie, ist nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht heilbar. Als realistisches Ziel einer Therapie gilt daher heute, dass der Betroffene lernt, seine Neigungen zu kontrollieren und Situationen zu vermeiden, in denen er Kindern gefährlich werden kann. Unterstützend ist es möglich, den Sexualtrieb mit Medikamenten zu unterdrücken. Der Kinderarzt wurde im Übrigen nach eigenen Angaben als Kind nicht missbraucht.
Dr. Harry S. war offensichtlich vor seiner Verhaftung im Oktober 2014 noch nicht so weit, dass er seine Neigungen kontrollieren oder risikobehaftete Situationen vermeiden konnte. Oder er wollte es nicht. „Ich habe einfach meinen sexuellen Wünschen nachgegeben“, sagt er einmal. Genau das darf er aber nicht mehr tun, wenn er eines Tages wieder ein annähernd normales Leben in Freiheit führen will.
Denn wenn Harry S. nicht lernt, seinen Trieb zu kontrollieren, dann stellt er weiter eine große Gefahr für kleine Kinder dar. Und in diesem Fall würden Gutachter und Gericht nicht zögern, ihn nach einer Gefängnisstrafe für unbestimmte Zeit in Sicherungsverwahrung zu schicken.
Die Diskussion ist geschlossen.