Prozessauftakt: Opfer müssen ihrem Geiselnehmer gegenübertreten
Zum Prozessauftakt gibt der Geiselnehmer von Ingolstadt alles zu. Für seine Opfer, die nun aussagen, bleibt es dennoch schwer - sie müssen ihm wieder in die Augen schauen.
Sie hatte ihn erwartet. Es hatte wieder Anrufe gegeben, mit denen er ihr nachforschte. Obwohl er doch längst in dieser Sache verurteilt war. Und dann, am Morgen jenes Tages, exakt um 8.26 Uhr, klingelt im Vorzimmer des Dritten Bürgermeisters wieder das Telefon. Sie meldet sich, wie immer. Vom anderen Ende der Leitung ist nur ein Atmen zu hören. Vier Minuten später steht er in ihrem Büro. Ein Jagdmesser mit einer 11,5 Zentimeter langen Klinge hat er dabei. Die Pistole hält er in der Hand. Schon früher einmal hatte er zu ihr gesagt, dass er es im Alten Rathaus „krachen lassen“ wolle.
Als es später an diesem 19. August des vergangenen Jahres dann kracht, sinkt er nieder. Um 17.43 Uhr hat das SEK zugegriffen, die Geiselnahme von Ingolstadt beendet, den Geiselnehmer niedergeschossen. Sie, die Vorzimmerdame des Dritten Bürgermeisters, und der städtische Beschwerdemanager werden als letzte von vier Geiseln befreit. Es ist vorbei.
Geiselnehmer habe "ein blutiges Ende" prophezeit
Es liegt über ein Jahr zurück. Aber vorbei ist es nicht. Als sie ihm gestern Mittag wieder gegenübertritt in Saal 11 des Landgerichts Ingolstadt vor der Großen Strafkammer, da beginnt sie tapfer. Sie spricht mit leiser, aber fester Stimme, erzählt, wie sie ihn, den Arbeitssuchenden, vor Jahren kennenlernte. Wie daraus eine Freundschaft wurde, warum diese Freundschaft zerbrach, wie alles eskalierte, wie er dann an diesem furchtbaren Augusttag immer wieder sagte, „dass es ein blutiges Ende gebe“. Wie er denn hier herauskommen wolle, hatte sie ihn gefragt, als die Beamten des SEK die Büroräume längst umstellt hatten. „Wer hat denn gesagt, dass ich hier herauskommen möchte“, habe er geantwortet. Der Vorsitzende unterbricht die Sitzung, als es zu schwer für sie wird.
Den Mittelhandknochen weggeschossen
Das blutige Ende gab es. Allerdings nur für ihn. Er, psychisch erkrankt, ist bleich, als er den Saal betritt. Das Blitzlicht der Fotografen tut das Übrige, um den 25-jährigen Angeklagten noch fahler erscheinen zu lassen. Er hinkt ein wenig, hält sich eine Zeitschrift vor das Gesicht. Die Schussverletzungen sind verheilt. Seine rechte Hand allerdings wird er wohl nie wieder richtig benutzen können, sagt sein Verteidiger. Ein Stück des Mittelhandknochens wurde ihm bei der Befreiung der Geiseln weggeschossen. Sein Mandant scheint das weggesteckt zu haben. Der gelernte Lagerist ist eine stämmige Person. Wie standhaft dagegen seine Psyche war, ist und sein wird, ist für den Prozess, der ihm seit gestern gemacht wird, entscheidend. In den Maßregelvollzug will er keinesfalls dauerhaft eingewiesen werden.
Als Staatsanwalt Ingo Desing die Anklageschrift verliest, verschränkt der, dem sie gilt, die Arme. Er hört, wie ihm Desing vorhält, was er getan hat. Wie er die Vorzimmerdame des Dritten Bürgermeisters Sepp Mißlbeck, den Beschwerdemanager der Stadt, dessen Mitarbeiterin und schließlich Mißlbeck selbst in seine Gewalt bringt. Mit dem Messer und der Pistole, die eine Replik ist, die aber alle für echt halten.
Was will der Geiselnehmer im Rathaus erzwingen?
Was will er damit im Rathaus erzwingen? Die Motivlage, so wie sie der Staatsanwalt zeichnet, ist vielschichtig: Dem zum Zeitpunkt der Geiselnahme Obdachlosen war am 7. August 2013 für die Unterkunft am Franziskanerwasser ein Hausverbot von der Stadt erteilt worden. Das Hausverbot war auch eine Konsequenz, die die Stadt aus einem ersten Urteil des Landgerichts vom Juli gezogen hatte. Dort war der Angeklagte, weil er der Vorzimmerdame nachgestellt hatte, zu einer Bewährungsstrafe von 20 Monaten unter anderem wegen Stalkings verurteilt worden. Die Behandlung durch die Stadt habe er als „demütigend und herabsetzend“ empfunden, so Desing. Deshalb habe er beschlossen, sich zu rächen.
Zugleich sei der Angeklagte, so Desing weiter, der Auffassung gewesen, dass er im Alter von fünf Jahren von seinem Vater sexuell missbraucht worden sei. Dafür habe er „die Behörden“ verantwortlich gemacht. Die hätten ihn aus der Obhut seines Vaters entfernen müssen. So war aus Sicht der Staatsanwaltschaft bei dem Angeklagten an jenem Augustmorgen im vergangenen Jahr genügend zusammengekommen, um etwas zu unternehmen: Er will von der Stadt ein Schreiben, das seine Reputation wieder herstellt.
Opfer hofft, dass ihr Stalker sie künftig in Ruhe lässt
Es stimmt, was in der Anklageschrift steht, sagt der Verteidiger Jörg Gragert danach. Er verliest eine Erklärung: Sein Mandant gestehe, räume vollumfänglich ein, was ihm zur Last gelegt werde. Zugleich aber betont er, dass sein Mandant „zu keinem Zeitpunkt vorhatte, den Geiseln körperlich oder seelisch Schaden zuzufügen“. Er entschuldige sich bei seinen Opfern. Er bereue, was er getan habe.
Das hoffe sie, sagt die Vorzimmerdame, als sie ihre Aussage hinter sich gebracht hat und erleichtert in den Stuhl neben ihrem Anwalt Peter Gietl sinkt. Das, „und dass er mich künftig in Ruhe lässt“.
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