Ungebremst in die Katastrophe - Was Insassen und Retter erlebten
Zwei Pendler-Züge prallen in Bad Aibling frontal ineinander. Die erschütternde Bilanz: zehn Tote und rund 80 Verletzte. Augenzeugen fällt es schwer, über das Unglück zu sprechen.
Am Abend zuvor tanzten sie beim Rosenmontagsball in der Turnhalle noch auf den Tischen. Sangen Lieder aus den 70er Jahren und banden den örtlichen Diakon an den Marterpfahl. Fasching in Kolbermoor, einer Kleinstadt unweit von Rosenheim. Die Kinder haben Ferien. Gott sei dank ist Fasching, und Gott sei dank sind Ferien. Sonst wäre am Dienstag um Viertel vor sieben am kleinen Bahnhof viel mehr Betrieb und die Züge deutlich voller gewesen. Und alles wäre noch schlimmer gekommen, als es eh schon ist.
Um Viertel vor sieben begegnen sich hier jeden Morgen zwei Züge der Bayerischen Oberlandbahn. Der Meridian, der von Holzkirchen kommt und nach Rosenheim fährt (planmäßige Ankunft: 6.44 Uhr), und derjenige, der laut Plan eine Minute später in die andere Richtung fahren soll. Sie müssen sich hier begegnen, weil die Bahnstrecke eingleisig ist. Sie tun es nur nicht hier an diesem Tag, sondern ein paar Kilometer weiter in Richtung Holzkirchen, vor Bad Aibling. Um 6.48 Uhr, auf offener Strecke. Und alle fragen sich: Wie kann das sein?
Im Café unweit des Bahnhofs von Kolbermoor erzählen Mitarbeiter, wie noch am Vormittag zwei Passagiere aus den Unglückszügen ihren Schock zu verdauen versuchten. „Total verstört“ seien sie gewesen, einer habe eine Wunde auf der Nase gehabt. Am Bahnhof selbst sucht ein älterer Mann mit Rollator vergeblich nach einem Ersatzverkehr. Die Bahnstrecke ist ja gesperrt – und wird es noch lange bleiben. Eine Frau wartet auf ihren Sohn, der mit dem Zug kommen wollte. Von dem, was sie sagt, versteht man nur Wortfetzen: „In der Kurve...“ – „zusammengestoßen“ – „neun Tote“. Die Zahl soll später noch steigen.
Augenzeugen fällt es schwer, über das Unglück zu sprechen
Was sich in den beiden Zügen abgespielt haben muss, im Moment des Zusammenstoßes, in den lähmenden Sekunden und Minuten danach, übersteigt ihre Vorstellungskraft. Übersteigt jedermanns Vorstellungskraft. Ein junger Mann ist einer der wenigen, die bereit sind, darüber Auskunft zu geben. Er erlebt mit, wie eine hochschwangere Frau mit dem Bauch gegen einen Tisch knallt. Nur ein paar Meter von ihm entfernt wird ein Zugabteil komplett zerdrückt. Er selbst erleidet bei dem harten Aufprall ein Schleudertrauma. Seine Halswirbel verschieben sich. Er hat Schmerzen. Doch die Krankenhäuser sind völlig überfüllt. Wer kann ihm helfen?
Der junge Mann lässt sich bei einem Orthopäden behandeln. Noch Stunden später fällt es ihm schwer, über die furchtbaren Erlebnisse zu sprechen. Die Bilder in seinem Kopf sind so unwirklich, so schrecklich. Was noch hinzukommt: Eigentlich sollte er gar nicht in dem Unglückszug sitzen. Er wollte eine frühere Verbindung nehmen, kam aber nicht rechtzeitig aus dem Bett.
Dass ein Unglück geschehen sein muss, darüber braucht die Polizei in Bad Aibling nicht extra informiert zu werden. Der laute Knall um 6.48 Uhr in der Früh ist, wie Polizeipräsident Robert Kopp später berichtet, über Kilometer hinweg bis in die Einsatzzentrale zu hören. Sofort sei klar gewesen, dass es sich um eine „wirkliche Katastrophe“ handelt.
Der Ort, an dem sich die Katastrophe ereignet, stellt die Rettungskräfte vor eine extreme Herausforderung. Die beiden Nahverkehrszüge sind in einer lang gezogenen Kurve offenbar ungebremst mit jeweils bis zu 100 Stundenkilometern Geschwindigkeit frontal zusammengestoßen. Nördlich dieses Streckenabschnitts liegt ein stark bewaldeter Hügel. Südlich der Gleise fließt der Mangfallkanal. Zwischen Bahnstrecke und Kanal liegen nur wenige Meter: ein Graben, eine Baumreihe, ein Fußweg. Die Verletzten hier mit Rettungswagen abzutransportieren, daran ist nicht zu denken. Die Situation ist „ähnlich wie bei einer Bergrettung“, sagt Innenminister Joachim Herrmann.
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Kein Geschrei, kein Chaos, nur einzelne Hilferufe
Den Rettern, die als erste vor Ort sind, bietet sich ein Bild des Grauens. Feuerwehrleute berichten von einer fast gespenstischen Ruhe am Unglücksort. Es habe kein Geschrei gegeben, kein Chaos, nur einzelne Hilferufe aus den Zügen, sagt Kreisbrandrat Richard Schrank. Das, was die Retter dort sehen müssen, ist umso schlimmer. Die beiden Züge haben sich mit ihren Triebköpfen vollständig ineinander verkeilt. Wer, wie die beiden Lokführer, jeweils im vordersten Zugteil saß, hatte kaum eine Chance zu überleben. Aber auch in den Waggons weiter hinten sind Menschen eingeklemmt und schwer verletzt. Ein Mann muss zweieinhalb Stunden mit Sauerstoff beatmet werden, ehe es der Feuerwehr gelingt, ihn aus den zerquetschten Stahlteilen zu schneiden.
Binnen kürzester Zeit bieten Polizei und Rettungsdienste auf, was nur aufzubieten ist: 215 bayerische Polizisten, 50 Beamte der Bundespolizei, 180 Feuerwehrleute und rund 200 Rettungskräfte kommen an den Unfallort. Sanitäter, Notärzte, Wasserwacht, Bergwacht und Technisches Hilfswerk rücken an. Sogar aus dem benachbarten Tirol eilen Retter herbei. Zehn Rettungshubschrauber und einige Polizeihubschrauber werden nach Bad Aibling beordert, um aus der Luft die Tragen mit den Schwerverletzten aufzunehmen. Direkt am Unfallort zu landen, ist wegen der vielen Bäume und des Kanals nicht möglich. Mehrere Boote werden gebracht, um die weniger stark Verletzten über den Kanal bringen zu können. Der leitende Notarzt weist die Spezialkliniken und Krankenhäuser in der Umgebung an, ihre Operationssäle frei zu halten. Auf einer Wiese bei Pullach, einem Stadtteil von Kolbermoor, wird das eigentliche Rettungscamp eingerichtet. Hierher werden die Verletzten geflogen, die nicht direkt mit Hubschraubern in Krankenhäuser gebracht werden müssen.
Als mittags Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (beide CSU) am Unglücksort eintreffen, sind die Retter immer noch im Einsatz. Zwei vermisste Personen sind noch nicht gefunden worden. Die Wracks der Züge zu trennen und abzutransportieren, werde noch Tage dauern, heißt es.
Zu diesem Zeitpunkt stehen die meisten Einsatzkräfte still. Die Männer und Frauen der Freiwilligen Feuerwehren Rosenheim und Pang klappen ihre Visiere nach oben. Blicken, Rücken an Rücken, auf die Stelle, an der sich die Züge aneinander vorbeigeschoben haben. Auch, um den Fotografen auf der anderen Uferseite die Sicht zu verdecken. Die Wasser- und Colaflaschen tastet kaum einer an. Auch nach fünf Stunden harter Arbeit im Gestrüpp. Auf den Gleisen: ein weißer Leichensack.
Auf der anderen Seite des Kanals ist es leerer geworden. Journalisten packen ihre Sachen zusammen, auch ein Mann aus Belgien, der eigentlich für die Münchner Sicherheitskonferenz nach Bayern gekommen ist. Der Pressesprecher der Bundespolizei hat zu diesem Zeitpunkt genug gesagt. Akku leer. Am Morgen waren es noch 97 Prozent.
Kurz nach 13 Uhr treten im Rathaus in Bad Aibling die Minister mit den Chefs der Polizei, den Leitern der Rettungsaktion, den Vertretern der Bahn und dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Traunstein, Wolfgang Giese, vor die Presse. Nach ihrer Schilderung hätten sich die beiden Nahverkehrszüge laut Fahrplan in Kolbermoor passieren müssen. Warum der eine Zug aus Kolbermoor bereits losgefahren war, obwohl der entgegenkommende und offenbar verspätete Zug noch nicht dort eingetroffen war, ist eines der Rätsel, dem die Ermittler jetzt nachgehen. Chefermittler Giese will darüber noch nicht spekulieren. Er räumt aber ein, dass ihm diese Frage „natürlich auf der Zunge“ liege. Am Abend melden Medien, dass die Ermittler von „menschlichem Versagen“ ausgingen. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland spricht von einer „verhängnisvollen Fehlentscheidung eines Fahrdienstleiters im Stellwerk von Bad Aibling“.
Die zweite große Frage ist, warum das automatische Sicherungssystem die aufeinander zurasenden Züge nicht, wie vorgesehen, automatisch gebremst hat. Das System, so sagt Minister Dobrindt, sei 2011 bundesweit eingeführt worden. Es erkenne über Magnetsensoren Züge, die irregulär unterwegs sind und stoppe sie. Dass das System irgendwo einmal nicht funktioniert hätte, sei nicht bekannt, sagt Bayerns Bahnchef Klaus-Dieter Josel. Auf der Strecke zwischen Holzkirchen und Rosenheim sei es erst vergangene Woche routinemäßig überprüft worden. „Da gab es keine Probleme“, sagt Josel. Am Rande der Pressekonferenz heißt es aber auch, dass es möglich sei, dieses Sicherungssystem abzuschalten.
Die Lokführer hatten keine Chance
Der Sprecher der Bayerischen Oberlandbahn, Christian Schreier, betont, dass beide Züge von erfahrenen Lokführern gesteuert worden sind. Das Gerücht, es könnten Praktikanten eingesetzt worden sein, weist er entschieden zurück. Und er betont, dass technische Schwierigkeiten, die in jüngster Zeit bei den Meridian-Zügen aufgetreten seien, mit dem Unfall nichts zu tun hätten. „Es kann keinen Zusammenhang zwischen technischen Schwierigkeiten und diesem Unfall geben.“
Als ausgeschlossen gilt auch, dass die Lokführer den Zusammenstoß im letzten Moment hätten verhindern können. In der Kurve war durch den Wald beiden die Sicht versperrt. Sie hätten bei Tempo 100, so sagen die Ermittler vor Ort, höchstens eine, bestenfalls zwei Sekunden Zeit gehabt, um zu reagieren und auf die Bremse zu treten. Sie hatten keine Chance.
Dass die Unfallursache ermittelt werden kann, daran lässt in Bad Aibling aber kaum jemand einen Zweifel. Die Polizei hat bereits mittags zwei der drei Blackboxen sichergestellt, die in den Zügen die relevanten Daten aufzeichnen. Ähnliche Aufzeichnungen gebe es auch über alles, was in der Fahrdienstleitung in Bad Aibling gemacht wurde. Herrmann verspricht: „Es ist klar, dass alles getan wird, um dieses Unglück restlos aufzuklären.“
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