Vater erfüllt den Todeswunsch seines Sohnes
Ein 77-Jähriger tötet seinen behinderten Sohn, nachdem dieser ihn monatelang darum bittet. Der Mann will auch sterben, doch er überlebt. Darf man so eine Tat bestrafen?
Er möchte seinem schwer kranken Sohn den Wunsch erfüllen, sagt Rainer S. (Name durch die Redaktion geändert), 77. Den allerletzten Wunsch. Am 9. Juli 2013 löst er Schlaf- und Beruhigungstabletten in Cola und in Kaffee auf. Er lässt seinen 50-jährigen Sohn, der seit der Kindheit im Rollstuhl sitzt, den Giftcocktail trinken. Er präpariert das Auto, damit Abgase ins Innere gelangen. Er lässt den Motor laufen, bringt den Sohn ins Auto, greift seine Hand. Draußen scheint die Sonne, es ist ein schöner Sommertag. Rainer S. wartet gemeinsam mit seinem Sohn auf den Tod.
Angeklagter überlebt Selbstmordversuch
Der Sohn ist tot, doch Rainer S. stirbt nicht. Jetzt, über ein Jahr später, muss sich der Vater wegen der Tat, die sich in einem Ortsteil von Friedberg bei Augsburg abgespielt hat, vor Gericht verantworten. Der Plan vom gemeinsamen Suizid scheitert, weil eine Schwägerin von S. im Haus einen Abschiedsbrief entdeckt. Sie läuft in die Garage und findet Vater und Sohn. Ein Notarzt versucht eine halbe Stunde lang vergeblich, den Sohn wiederzubeleben.
Rainer S. überlebt. Er wird ins Klinikum gebracht. Dort liest ihm auf der Intensivstation ein Richter den Haftbefehl vor. Nach einigen Wochen, Ende August, wird er aber wieder aus der Untersuchungshaft freigelassen.
Die Ermittlungen ergeben, dass der Sohn, der seit der Geburt an einer spastischen Lähmung litt, seit Monaten darum gebeten hatte, sterben zu dürfen. Die Krankheit schritt voran, die Schmerzen wurden schlimmer. Rainer S. erzählt, sein Sohn habe nicht mehr selbst essen und trinken können. Er litt an Darmbeschwerden, wurde inkontinent, erhielt einen Bauchkatheter. Das Sprechen fiel ihm schwer. Einmal soll er versucht haben, sich mit dem Rollstuhl eine Treppe hinabzustürzen.
"Tötung auf Verlangen" steht in der Anklageschrift
In der Anklageschrift vor dem Landgericht ist deshalb jetzt von „Tötung auf Verlangen“ die Rede. Die Strafe dafür liegt zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. In Justizkreisen geht man davon aus, dass die Staatsanwaltschaft eine Bewährungsstrafe anstreben wird. Doch ist eine Strafe in diesem Fall überhaupt angemessen? Verteidiger Florian Engert glaubt das nicht.
Der Anwalt ist der Meinung, Rainer S. sei durch den gescheiterten gemeinsamen Freitod schon genug gestraft. Er habe den Wunsch des Sohnes, zu sterben, immer abgelehnt, ehe er sich dann doch entschloss, ihm nachzugeben. Anwalt Engert sagt, der Vater, ein gläubiger Christ, trage schwer an der Schuld. Er habe seinen Sohn über alles geliebt.
Tatsächlich gibt es eine Regelung, die es Richtern ermöglicht, auf eine Strafe zu verzichten. Paragraf 60 des Strafgesetzbuchs sagt: „Das Gericht sieht von Strafe ab, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre.“ Im Jahr 2005 stand in Berlin eine Frau vor Gericht, die sich und ihren behinderten Sohn töten wollte. Die Frau überlebte und wurde nicht bestraft.
Sohn fragt: "Warum hast du mich aufwachen lassen?"
Rainer S. sagt: „Mein Sohn war in einer verzweifelten Lage. Er litt so, er war fertig mit der Welt.“ Morgens fragte der 50-Jährige seinen Vater: „Warum hast Du mich aufwachen lassen?“ Als er jünger war, sei er trotz der Behinderung ein fröhlicher Mensch gewesen. Doch die Krankheit schritt voran. Als 2012 seine Mutter an Blutkrebs starb, war klar, dass er früher oder später in ein Heim muss. Sein Vater würde nicht ewig für ihn sorgen können. Dieser Gedanke machte dem Sohn zusätzlich Angst.
Am 9. Juli 2013 besucht Rainer S. mit seinem Sohn das Grab der Mutter. Am Grab sagt er noch einmal, dass er sterben will. An diesem Tag entscheidet sich Rainer S. spontan, dass er den Wunsch erfüllen wird. „Mir wurde plötzlich klar, dass er sonst noch einmal versuchen wird, sich eine Treppe hinabzustürzen“, sagt S. „Ich wusste, dass ich der Einzige bin, der ihm helfen kann.“
Die Richter wollen vor dem Urteil noch Zeugen hören – darunter Verwandte, denen der Sohn ebenfalls gesagt haben soll, dass es sein Wunsch sei, zu sterben. Rainer S. lebt jetzt bei einem seiner Kinder, er hat noch einen Sohn und eine Tochter. Die Familie, heißt es, stehe zu ihm.
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