Verabreichte ein Arzt seinem Vater eine Überdosis Morphin?
Vor vier Jahren starb ein Arzt im Universitätsklinikum Ulm unter ungeklärten Umständen. Jetzt begann am Landgericht Ulm der Prozess um mögliche Sterbehilfe.
Ein toter Arzt und viele Fragen: Gestern hat vor dem Schwurgericht Ulm ein Prozess gegen einen 44-jährigen Chirurgie-Professor aus München und seine 72 Jahre alte Mutter begonnen, die wegen verbotener Sterbehilfe angeklagt sind. Das Urteil könnte in die Rechtsgeschichte eingehen und das Thema Sterbehilfe neu beleuchten.
Staatsanwaltschaft ermittelt seit sechs Jahren
Seit sechs Jahren ermittelt die Staatsanwaltschaft die Hintergründe dieser Familientragödie und ist nach Anhörung zahlreicher Gutachten zum Schluss gekommen, dass sich die jetzt Angeklagten einer Tötung auf Verlangen schuldig gemacht haben. Und die ist in Deutschland verboten. Anfang Januar 2008 wird ein Neu-Ulmer Lungenfacharzt (69) in die Uniklinik eingeliefert. Die Notaufnahmeärzte diagnostizieren eine schwere idiopathische Lungenfibrose im Endstadium. Heilung ist ausgeschlossen, Linderung kaum möglich.
Der Arzt wird in der Intensivstation mit starken Schmerzmitteln behandelt, der Tropf mit dem Morphium wird von den Intensivpflegern auf der Intensivstation regelmäßig kontrolliert. Der Sterbenskranke wird von seiner Frau und seinen drei Kindern regelmäßig besucht, zwei von ihnen sind auch Mediziner.
Patient riss aus Todesangst Atemmaske vom Gesicht
Am Abend des 28. Januar 2008 besucht die Ehefrau ihren Mann. Es geht ihm besonders schlecht, er leidet an Atemnot, offenbar wird ihr ein Wunsch nach stärkerer Medikation ihres Mannes nicht erfüllt, sodass sie in ihrer Not ihren Sohn in München anruft. Der renommierte LMU-Professor fährt sofort nach Ulm. Es ist 23 Uhr abends, als er in der Klinik eintrifft. Der leitende Oberstaatsanwalt schilderte gestern bei der Verlesung der Anklageschrift, welches Drama sich nach den Ermittlungen danach abgespielt haben soll.
Weil er keine Luft mehr bekam und von Todesangst überwältigt wurde, riss der Patient demnach die Sauerstoffmaske vom Gesicht und bat seinen Sohn und seine Mutter, sein Leiden zu verkürzen. Wenn es nach der Staatsanwaltschaft geht, muss der Münchner Mediziner wohl eine Spritze mit Morphin bei sich getragen haben. Er und seine Mutter fassten daraufhin – so der Anklagevertreter – den Plan, der Bitte nachzukommen.
Familie verabreichte eine Überdosis Morphin
Der um Luft ringende Vater und Ehemann bekam eine Überdosis Morphin in einem Moment gespritzt, als die Intensivschwestern für ein paar Minuten das Zimmer verlassen hatten. Außerdem öffneten sie die Dosierpumpe zur intravenösen Verabreichung von Medikamenten, sodass weiteres Morphin ungehindert in den Körper des Leidenden einfließen konnte, bis es zum Atemstillstand kam. Während sich die gesamte herbeigerufene Familie um das Bett des Toten versammelte, alarmierte das Klinikpersonal die Polizei, die noch in derselben Nacht die Ermittlungen aufnahm.
Der Anfangsverdacht richtete sich gegen die jetzt Angeklagten, die sich bis heute in Schweigen hüllen. So kann die Staatsanwaltschaft nicht bei ihrer Anklage genau benennen, wer bei dem Tötungsvorgang was gemacht hat. Die Verteidiger behaupteten im Vorfeld des Verfahrens, es sei nicht einmal geklärt, ob der kranke Lungenfacharzt nicht doch eines natürlichen Todes gestorben sei. Diese These erhielt gestern Auftrieb durch die Aussagen des Obduktionsarztes, dass auch ein Herzversagen den Tod herbeigeführt haben könnte. Und selbst wenn man von Sterbehilfe ausgehe, gebe es keinerlei Beweise, dass beide Angeklagten gemeinsam vorgegangen seien und nicht einer allein.
Lücken im Obduktionsbericht
Aufgeboten werden von der Staatsanwaltschaft und von der Verteidigung insgesamt zwölf Sachverständige aus München, Hamburg und Köln, die jeweils in ihren juristischen und medizinischen Fachgebieten als Koryphäen gelten.
Sie kritisierten den Ulmer Pathologen, weil dieser einen zu wenig ausführlichen Obduktionsbericht geliefert haben soll, auf dem sich die Gutachten der Experten nicht aufbauen ließen. Sie werden in den nächsten Verhandlungstagen im Mittelpunkt des Prozesses stehen. Einer von der Verteidigung benannten Medizinprofessoren hat gegenüber unserer Zeitung angekündigt, die Zustände in den deutschen Intensivstationen am Beispiel Ulm festmachen zu wollen, wo die Lebenserhaltung um jeden Preis Vorrang vor Leidensbegrenzung habe. „Von moderner Palliativmedizin hat man da noch nichts gehört.“
Im Fall einer Verurteilung wegen Tötung auf Verlangen müssen die Angeklagten mit einer Freiheitsstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren rechnen. Bei dem Medizinprofessor geht es im Prozess, für den zwölf Verhandlungstage angesetzt sind, auch um seine berufliche Existenz.
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