Warum ein Kemptener als Gotteskrieger in Syrien starb
Warum kämpfen Salafisten in Syrien? Das Schicksal von David G. aus Kempten, der im Januar starb, gibt Einblicke.
Knapp ein Dutzend Salafisten, radikale Muslime, gibt es im Allgäu. Bundesweit sind es etwa 6000. Hunderte der vor allem jungen Leute kämpfen in Syrien. Sie sind ein Sicherheitsrisiko für Deutschland – und ein handfestes gesellschaftliches Problem. In Kempten plant die türkische Moscheegemeinde für den Spätherbst eine große Konferenz. Dabei will sie klären, wie man umgehen soll mit den Salafisten. Erhan A. aus Kempten ist Salafist. Im Internet nennt er sich Abdul Aziz at-Turki. Und er sagt: „Ja, ich wollte nach Syrien.“
Wie kommt es so weit? Es ist der Fall des im Januar im Terrorkrieg getöteten Kempteners David G., der Einblicke gibt. Wir erzählen in unserer Reportage seine Geschichte.
David zieht in den Krieg
Als David in den Krieg zieht, ist er allein. Er schreibt noch einen Brief an seine Familie. Von Hand. Diesen legt in seinem Zimmer auf das Bett. Durch die Scheiben der Terrassentür dringt Licht in den quadratischen Raum, dessen Wände in zitronengelb gestrichen sind. Draußen stehen Topfpflanzen dicht an dicht. Seitlich hängt ein schmaler Spiegel. Die beiden Bretter des niedrigen Regals daneben sind leer. David hat alles verkauft. Auf Flohmärkten und im Internet. Die Taschenbuchausgabe von Tolkiens „Herr der Ringe“. Todenhöfers „Warum tötest du, Zahid?“. Die Computerspiele. Die Turnschuhe, Größe 46.
Bis zur Zimmertür sind es nur wenige Schritte über einen dichten zotteligen Teppich in Schwarz-Weiß. David hat seit Monaten darauf geschlafen. Um sich abzuhärten. Nun lässt er alles zurück für das, worauf er sich vorbereitet, wofür er gebetet hat: den Krieg in Syrien. Es ist ein Tag im September 2013, an dem der 18-jährige Islamkonvertit die Haustür am Stadtrand hinter sich schließt. Dann geht er zum Bahnhof. Von dort blickt er zum letzten Mal auf Kempten.
David wird nicht zurückkommen. Im Januar darauf stirbt er in Syrien. Als islamistischer Gotteskrieger einer Terrororganisation: Isis, Islamischer Staat im Irak und Syrien. Im Jahr 2014 taucht sie die Region, deren Namen sie trägt, in Blut. David ist nach offiziellen Schätzungen der 16. von 25 Islamisten aus Deutschland, die bis Juli 2014 im Terrorkrieg ums Leben kommen. Ein Fall, der Wellen bis ins Bundesjustizministerium schlägt. Dort sind 2013 Ermittlungen nach dem Anti-Terrorparagrafen gegen ihn genehmigt worden. Ein gutes halbes Jahr nach Davids Tod sind die Akten geschlossen. Die Staatsanwaltschaften haben die Ermittlungen eingestellt. Es gibt keinen Leichnam. Kein Grab.
Er suchte nach einem Sinn in seinem Leben
Frühsommer 2011. In dem Jahr, das alles verändern wird, ist David 16. Er besucht eine Realschule. Ein ganz normaler Junge, der morgens eher widerwillig durch die schweren Flügeltüren geht, die hinein führen in ein historisch-imposantes Schulgebäude. David stammt aus christlichem Elternhaus, hat eine ältere Schwester und einen älteren Bruder. Er ist kein guter Schüler. Er hat Schwierigkeiten in Deutsch. Viel lieber arbeitet er praktisch. Zum Beispiel in Hauswirtschaft. Mit Mädchen sehen ihn frühere Klassenkameraden nicht. David, der Junge mit den blauen Augen, fällt auf. Auch, weil er sein Haar abrasiert. Bei den Abschlussprüfungen tut sich David schwer. Eine Lehrstelle findet er zunächst nicht.
Auch deshalb stellt sich der Jugendliche Fragen: „Er hat nach einem Sinn im Leben gesucht“, sagt jemand, der ihm damals nahesteht. Zu dieser Zeit spricht in Kempten kaum jemand über die Salafisten, die den Koran besonders streng auslegen, Demokratie ablehnen. Dabei gibt es damals es in Bayern bereits 450 von ihnen, in ganz Deutschland rund 3800.
David wird zu diesen Extremisten gehören. Doch 2011 sieht niemand die Gefahr.
Der Konflikt in Syrien
In seiner Freizeit treibt David Sport. Er boxt. Die Trainingshalle ist nur einige hundert Meter von seiner Schule entfernt. Dort treffen sich die Boxer des größten Sportvereins der Stadt. Viele Jugendliche mit ausländischen Wurzeln kommen in der Halle zusammen. Junge Russen, Italiener und Türken, die zur größten Einwanderergruppe der Stadt gehören. Trainer Reinhold Gruschwitz kümmert sich um sie. Ein Mann mit festem Händedruck, der offen und unverkrampft spricht. Er mag David. Auch nach seinem Tod wird er nichts Schlechtes über ihn zu sagen haben. David kann sich voll auf den Kampf konzentrieren, sagen andere aus dem Verein. Er blendet alles andere aus.
Während sich David beim Boxtraining abmüht, bricht fast 3000 Kilometer entfernt der Bürgerkrieg in Syrien aus. Das, was im Zuge des Arabischen Frühlings als friedlicher Protest gegen Präsident Baschar al-Assad beginnt, schlägt in Gewalt um. Ausländische Kämpfer strömen ins Land. Sie streben nicht nach Demokratie. Sondern nach einem islamischen Staat. Auch Muslime aus Deutschland greifen nun zur Waffe. Direkt nach dem Ausbruch des Krieges 2011 ziehen die ersten deutschen Gotteskrieger nach Syrien. Sie stammen aus Baden-Württemberg.
David geht erst einmal ins Praktikum. Weil er noch immer keine Lehrstelle hat, wird er an eine Elektrotechnikfirma vermittelt. In der Firma blüht David auf. Ihm liegt die Arbeit. Und seine Vorgesetzten mögen ihn. Sie geben ihm einen Vertrag. David ist nun Elektrikerlehrling. Es ist Spätherbst 2011. Irgendwann in dieser Zeit konvertiert David zum Islam. Wie genau es dazu kommt, bleibt im Dunkeln. Eines Tages teilt er zu Hause seine Entscheidung mit. Er habe nun den Sinn im Leben gefunden.
Sie predigen Hass, Abgrenzung und die Verhüllung der Frau
Dass ihn dies nach Nordrhein-Westfalen führen wird, mitten hinein in ein salafistisches Netzwerk, ahnt keiner. In Solingen, 500 Kilometer von Kempten entfernt, wird gerade einer der Grundsteine dafür gelegt. In einer Hinterhofmoschee finden sich radikale junge Muslime zusammen. Sie nennen sich „Millatu Ibrahim“, die Gemeinschaft Abrahams. Sie predigen Hass. Abgrenzung. Die Verhüllung der Frau.
David wird 17 Jahre alt. Das Jahr 2012 beginnt für den Jugendlichen mit vielen neuen Bekanntschaften. Der Konvertit findet Anschluss bei anderen Muslimen. David wird nun mit neuen Freunden gesehen. Darunter Erhan A. aus Kempten. Er betreibt eine Internetseite, die für einen strengen Islam wirbt.
Das Land am Nil und seine Rolle
In Nordrhein-Westfalen führt der Hass von Millatu Ibrahim derweil zu roher Gewalt. Im Mai 2012 sticht Salafist Murat K. mit einem Messer auf einen Polizisten ein. Im Juni erlässt das Bundesinnenministerium ein Vereinsverbot. 50 Menschen gehören dem Verein in dieser Zeit an. Der Kopf der Gruppe, Mohamed Mahmoud, taucht unter. Der in Österreich geborene Sohn ägyptischer Eltern wird 2013 im türkischen Ort Hatay verhaftet, als er nach Syrien einreisen will. Im Sommer 2014 sitzt er noch in türkischer Haft.
Nicht nur Mahmoud reist aus, sondern auch viele seiner Glaubensbrüder und -schwestern. Die meisten zieht es nach Ägypten. Dort sind nach dem Arabischen Frühling die Islamisten erstarkt. Hassan Sadek hat die Tage des Umsturzes 2011 miterlebt – und auch die Folgen in den Jahren danach. Der Mann Mitte 70 ist einer von wenigen Ägyptern in Kempten. Er sitzt nachdenklich in seinem Wohnzimmer.
Eine kleine Decke ist auf dem Holztisch ausgebreitet. Hassan Sadek zieht sie zurecht. „Früher war Ägypten toleranter und fortschrittlich. Frauen haben kein Kopftuch getragen. Sie sahen aus wie hier auch.“ Doch das habe sich geändert. Besonders, als nach dem Sturz von Hosni Mubarak die islamistische Muslimbruderschaft die Wahlen gewinnt. Eine Bewegung, zu der die Islamisten aus Solingen eine besondere Beziehung pflegen. Der Vater von Imam Mohamed Mahmoud hat ihr angehört.
Eine Spur führt nach Ulm
Kempten, Ende des Jahres 2012. Nun tritt die Veränderung zutage, die David gerade durchlebt. Er will nun nicht mehr gegen Menschen boxen. Weil Gott das Gesicht erschaffen habe, kein Mensch es deshalb schlagen dürfe. In diesen Tagen geht David zum Gebet in die Moscheen Kemptens. In einer der drei wird er besonders häufig gesehen. Die Männer, die auf davor auf Plastikstühlen in der Sonne sitzen, haben David nicht vergessen. „Er ist eine Weile hierher gekommen“, sagt einer der Türken. Er steht auf, geht ein paar Schritte und öffnet die grüne Eingangstür zur Moschee.
Die Schuhe kommen in ein Wandregal, auf Strumpfsocken geht es rechts hinein in den Gemeinschaftsraum mit Küche, in dem sich die Männer der Moscheegemeinde gerne zum Fußballschauen treffen. David ist anfangs willkommen, sagt der Mann. Doch irgendwann gibt es Diskussionen. David provoziert die anderen, preist schließlich die El Kaida. Soweit die Türken wissen, steht der junge Mann in Kontakt mit Radikalen in Ulm und Neu-Ulm.
Die Doppelstadt an der Donau spielt zu diesem Zeitpunkt schon lange eine Rolle in der salafistisch-dschihadistischen Szene Deutschlands und im internationalen Terrorismus. Von dort stammen mehrere Mitglieder der Sauerlandgruppe. Die Terrorzelle plant bis 2007 Anschläge auf deutsche Diskotheken und US-Einrichtungen. Das Multikulturhaus und das Islamische Informationszentrum im Raum Neu-Ulm/Ulm sind Brutstätten des Islamismus und Terrorismus. 2005 und 2006 lösen die Behörden die beiden Einrichtungen auf.
Im Ruhrpott schließt sich ein Kreis im Fall David
Es ist Anfang 2013. Davids engstes Umfeld beobachtet mit Sorge, wie der 18-Jährige immer weiter abgleitet. Er liest stundenlang im Koran, lernt mithilfe eines ägyptischen Studenten über das Internet Arabisch, betet und hört, was die Hassprediger der Salafisten sagen.
David ist derjenige aus der Gruppe, der Kontakte nach Nordrhein-Westfalen knüpft. Nach Dinslaken. Einer ehemaligen Zechenstadt mit 71.000 Einwohnern in der Nähe von Duisburg. Dort ist eine islamistische Zelle aktiv. 14 radikale Muslime ziehen von dort nach Syrien.
In der Stadt im Ruhrpott schließt sich ein Kreis im Fall David. Im Hintergrund der örtlichen Szene nämlich soll ein Mann stehen, der laut den Sicherheitsbehörden beste Kontakte zur älteren deutschen Dschihadisten-Generation pflegt. Zum Beispiel zu Attila Selek. Der gebürtige Ulmer und verurteilte Terrorhelfer der Sauerlandgruppe verkehrt vor Jahren im Multikulturhaus Neu-Ulm und dem Islamischen Informationszentrum Ulm. Selek und der Mann aus Dinlaken sollen gemeinsam zu einem Anwaltstermin gefahren sein. Spielt der Dinslakener eine Rolle bei Davids Rekrutierung für Syrien? Vermutlich.
David findet in Nordrhein-Westfalen Freunde. Mustafa heißt der junge Mann, der ihm bald am nächsten steht. Der frühere Drogendealer hat Frau und Kind. Dennoch reist auch er später nach Syrien – an der Seite von David. Der trägt unter Gleichgesinnten einen neuen Namen: Abdullah Dawud al Almani. Abdullah Dawud, der Deutsche.
Warum ist er nur vier Monate später tot?
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