Internetphilosoph: Privatsphäre wird es im Netz nie mehr geben
Wer am Leben teilhaben will, wird unweigerlich zum Teil des Internets. Das sagt der Berliner Blogger und Internettheoretiker Michael Seemann (Jahrgang 1977). Ein Interview.
Der Berliner Blogger und Internettheoretiker Michael Seemann (Jahrgang 1977) hat bei einem Internettag in Nürnberg am Wochenende die Thesen seines neuen Buchs vorgestellt. Er hat es mit Mitteln aus der Netzgemeinde, also durch Crowdfunding, finanziert.
Frage: Herr Seemann, in Kürze erscheint ihr Buch "Das neue Spiel - Nach dem Kontrollverlust". Was wollen Sie uns damit sagen?
Seemann: Ich bin schon ziemlich lange im Internet unterwegs und bin auf wiederkehrende Phänomene gestoßen. Aktuelle Netzprobleme wie das Urheberrecht, Datenschutz, die Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen, aber auch beispielsweise die Krise des Journalismus - all diese Dinge haben eine gemeinsame Ursache: den Kontrollverlust über Datenströme. Die Welt hat aufgehört, so zu funktionieren, wie wir sie kannten. Game over. Ein neues Spiel hat begonnen mit neuen Regeln.
Frage: Kontrollverlust und neues Spiel - was genau meinen Sie damit?
Seemann: Spätestens die Snowden-Affäre hat uns gezeigt, dass wir alle von einem Kontrollverlust betroffen sind. Wir alle haben uns in einer neuen datengetriebenen Geheimdienstwelt wiedergefunden. Aber das ist nicht alles: Überwachungskameras, Schrittzähler, Scanner - es sind unzählige Sensoren, die wir überall auf der Welt verteilen, und die immer ausgefeiltere Informationen erfassen. Sie verknüpfen die reale Welt immer unauflöslicher mit der virtuellen Welt. Es gibt kein analoges Leben mehr im digitalen.
Wer am zeitgenössischen Leben teilhaben will, wird unweigerlich zum Teil des Internets. Beispiel: unser alltäglicher Kontrollverlustapparat - das Handy. Durch die Funktechnologie bedingt, tragen wir alle ständig Ortungswanzen mit uns herum. Wir können letztlich nicht mehr steuern, was mit unseren Daten geschieht oder irgendwann geschehen wird.
Frage: Der Verlust der Kontrolle über unsere Daten, das Ende der Privatsphäre und des Geheimnisses betrifft aber nicht nur uns als Einzelne...
Seemann: Das Internet ist eine riesige Kopiermaschine, und sie wird immer leistungsfähiger bei immer geringeren Speicherkosten. Im Internet ist alles was wir tun: kopieren. Wer wie einst Barbra Streisand versucht, Inhalte aus dem Netz zu entfernen oder entfernen zu lassen, sorgt erst recht für deren Verbreitung. Ergebnis eines "Streisand-Effekts": Es gibt heute 1426 Kopie-Server mit allen Inhalten von Wikileaks. Dafür gesorgt hat der Druck der US-Regierung, die dafür sorgen wollte, die eigentlich geheimen Inhalte vom Netz zu bekommen. Um das zu verhindern, wurden die Daten tausendfach kopiert - Kontrollverlust.
Frage: Müsste nicht eigentlich der Staat unsere Daten schützen und für Privatsphäre sorgen?
Seemann: Datenschutz ist ja vom Staat gewährte Privatsphäre. Seit Snowden wissen wir, dass gerade der Staat uns diese nimmt, wann immer es ihm passt. Die Grenzen der Überwachung verlaufen übrigens nicht zwischen den Staaten, sondern zwischen oben und unten. Deswegen sind Rufe nach "dem eigenen Internet", der dem "eigenen Facebook" sinnlos. Nein, es gibt keine Privatsphäre mehr, nur noch Verschlüsselung.
Frage: Wie sehen in diesem düsteren Szenario die Spielregeln des von Ihnen angenommenen "neuen" Spiels" aus? Und warum überhaupt "Spiel"?
Seemann: Man könnte statt "das neue Spiel" auch sagen: die neue Schlacht, aber Kriegsmetaphern liegen mir nicht so. Spiele folgen Regeln, und die nun geltenden Spielregeln versuche ich zu beschreiben. Und es geht darum, angesichts dieser neuen Spielregeln neue Strategien zu entwickeln. Entscheidend ist: Man kann das Spiel nicht gegen den Kontrollverlust spielen.
Alle Konzepte, die auf dem Festhalten von Daten beruhen, sind heute brüchig und morgen obsolet. Das neue Spiel heißt: Transparenz und Vernetzung. Und: Der Kampf gegen die Überwachung muss weitergehen. Es geht um eine globale Zivilgesellschaft. Wir brauchen die intelligente Nutzung moderner Informationstechnologien zur Erfassung und Auswertung großer Datenmengen im Dienst der Bürger und nicht nur der Konzerne. Ich glaube, es gibt Grund für ein neues zivilgesellschaftliches Selbstbewusstsein. Das neue Spiel ist zwar anstrengend, aber es ist auch besser als das alte.
Frage: Woher nehmen Sie Ihren Optimismus? Es liegt ja doch eine gewaltige Asymmetrie der Kräfte vor: Die "Facebook-Revolution" vom Tahrir-Platz war wohl nur ein einmaliges historisches Fenster, seither haben die Regierungen, vor allem die diktatorischen, kräftig dazugelernt, siehe arabische Staaten, siehe Türkei, Russland, China. Andererseits ist da die Big-Data-Übermacht von Konzernen wie Google, Amazon, Apple & Co. Ist es nicht eher Zeit für einen Abgesang auf die individuelle Freiheit, die Demokratie und die bürgerliche Gesellschaft des Westens?
Seemann: Ich gebe zu, es ist eine Spur Zweckoptimismus dabei. Ich sehe auch die Probleme. Der Umbruch ist extrem, und ich befürchte tatsächlich, dass gewisse bürgerliche Freiheiten unrettbar verloren sind. Privatsphäre, informationelle Selbstbestimmung - das wird es nie mehr geben wie zuvor, auch weil es niemanden gibt, der sie effektiv schützen kann. Dem Staat als Gewährer von Datenschutz kann man ganz offensichtlich nicht mehr trauen. Der Kampf um die "informationelle Selbstbestimmung" ist wichtig, aber es ist ein Rückzugskampf. Dennoch bin ich bin absolut dafür, jedes Werkzeug zu nutzen, das Freiheiten sichert. epd
Michael Seemanns bloggt unter http://mspr0.de
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