Ein „Fühldenker“ treibt die Realität vor sich her in den Wahn
Sebastian Krämer gastierte mit „Lieder wider besseres Wissen“ im Theater in Frauenriedhausen. Und wurde gefoltert
Lauingen Zu seinen Vorbildern zählt er Kreisler und Morgenstern, Kästner, Kusenberg und Stählin. Doch was ist Sebastian Krämer? Ein singender Pianist oder ein klavierspielender Poet, ein Liedermacher, Singer-Songwriter, ein Cantautore? Sind es Chansons, die er vorträgt oder Schlager, Lieder, vertonte Gedichte, gedichtete Vertonungen, letzte Wahrheiten oder versponnener Nonsens? Spricht er oder singt er? Der Mann lässt sich nicht in ein Genre pressen.
Mit seinem neuen Programm „Lieder wider besseres Wissen“ drohte der virtuose Wort-Rastelli bei der Vorpremiere im TiF nun gar „romantische Studien im Selbstversuch“ an. Das ist verdächtig und man sollte auf alles gefasst sein. Denn seine „romantische“ Weltsicht könnte sich auch als Wahnsinn entpuppen, oder zumindest als Reise dorthin. Wenn er in seinen Rezitativen mit der Wirklichkeit im Gepäck auf Tour geht, sind psychiatrische Anstalten in der Nähe und Friedhöfe nicht weit. Dann nimmt er mit einer Leerkassette die Stimmen von Toten auf oder stellt sechs Fuß unter der Erde romantische Studien mit „Ihr“ an: „Was ist Romantik? Wenn man´s überlebt war´s keine.“ Dabei kann er auch garstig und boshaft wie Kreisler sein, wenn er „ich hab kein Liebeslied für Dich“ damit entschuldigt, dass „jede Fregatte im Parkett alles nur auf sich münzt“. Ob er nun die Realität vor sich her in den Wahnsinn treibt („Entschuldigung, ich muss zum Flötenunterricht“) oder anders als der Therapeut die wirklichen Abgründe im Seelenleben eines Waldgeistes erkennt: Krämer versucht Situationen oder Dinge zu zeigen, die sich jeden Augenblick ereignen können oder vielleicht auch nicht. Oder ist alles ganz anders und er treibt gar den Wahnsinn in die Wirklichkeit, wenn er nach dem wahren (Un-) Sinn seiner Goldmedaille sucht oder dem Hell-Express auf dem Rummelplatz eine außerirdische Vergangenheit unterstellt. Beim Aufstieg zum Gipfel von Erkenntnis und Vernunft kennt er die Direttissima. Der Wahl-Berliner und Theater-Direktor (Zebrano) steht seit über 20 Jahren auf der Bühne und hat in dieser Zeit Kabarettpreise reihenweise abgeräumt. Nach eigenem Bekunden graust es ihn vor dem Begriff Alltag. Doch es geht ihm immer wieder um Alltägliches, etwa dem Seelenleben einer verträumten Armbanduhr, die manchmal einfach stehen bleibt. Führt er uns an der Nase herum oder will er nur, dass man in seine Geisteswelt einfühlt und nicht nach Sinn oder Unsinn fragt? In diesem Sinne ist er ganz Stählin-Schüler, bei dem er das „Fühldenken“, das sentipensando, gelernt hat. Sich fühlend den Dingen nähern, ohne das Denken zu vergessen. So fühlt und leidet er mit Sprache und Sinn, Pathos und Poesie, Witz und Ernst, Wahrheit und Wahnsinn, Hintersinn und Vordergründigkeit. Ein glänzender Auftakt des Lauinger Kleinkunstherbstes. Nachdem das Publikum im ausverkauften TiF den heftig erkälteten Künstler (begleitet von Karsten Zimmermann am Horn) noch mit Zugabe-Forderungen folterte, versagt ihm am Schluss vollends die Stimme. Bleibt zu wünschen, dass er bei der Premiere am Freitag im Heimathafen, Neukölln wieder bei Kräften ist.
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