So war das erste Wochenende Brechtfestival
Zuschauerschlangen zu Beginn und volle Konzertsäle – die lange Nacht erfüllt ihr Versprechen. Nina Hagen ehrt Brecht mit einem Halleluja, Bonaparte testet die Akustik des Theaters.
Festivalstimmung bedeutet: Andrang, Gedränge. Davon reichlich gab’s vor dem Auftritt Nina Hagens. Gewoge von Köpfen und Mänteln, die Halle ein Bienenstock und bei Einigen Verwirrung um die Kombination von roten Bändchen und Zusatzkarten. Unmut sparet nicht: Theatermann Oliver Brunner musste am Einlass einiges aushalten, weil der Mensch in solchen Situationen doch ein Mensch und der Augsburger halt doch ein Augsburger ist. Nur: Wie hätte man’s sonst machen sollen?
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Nina Hagen: große rote Blumen im großen schwarzen Haarteil, große Stimme, große Begeisterung. Wer außer Brecht kann das „R“ so zu einem vokalen Ereignis machen wie die bald 59 Jahre alte Berlinerin, die Brecht mit Vitalität und Halleluja liebt? „Was Brecht auf die Reihe gebracht hat, ist einfach wunderbar“, sagte sie, und dass das ewig so bleiben wird, Brecht für immer, yeah. Das Tempo ihres einstündigen Programms ist hoch. Mal singt sie wie Tom Waits, dann wie eine Göre auf der Kinderschaukel, dann ist sie Operndiva mit Schmackes. Voller war der Moon über Alabama nie. Dass Hagen so gerne an der Verschmelzung von Brecht und Bibel arbeitet, stört nicht weiter in dieser intensiven Stunde. Ein sehr persönliches, professionelles und leidenschaftliches „Danke, Meister Brecht“ wird vom Publikum gefeiert. Danke, Nina Hagen.
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Weltbühne 2.0. Diesen großen Titel trägt eine „Festivalzeitschrift für Kapitalismus- und Augsburg-Kritik“, die am Samstag im Theater verteilt wurde. Verantwortlich für das 20 Seiten starke Heft zeichnet das Sensemble Theater, die freie Bühne von Sebastian Seidel. Der Titel, bezugnehmend auf die große Wochenzeitung der Weimarer Republik, mag zwar zum Brecht-Festival-Schwerpunkt „1920er Jahre“ passen. Doch ehrlicher hätte „Die Anmaßung“ darüber gestanden. Denn die Augsburger Macher stellen sich mit ihren Beiträgen mal eben in eine Reihe mit Brecht, Tucholswky und Ringelnatz, deren Texte das Heft zur Hälfte füllen. Neben einem leicht angegilbten Brief des Autors und Übersetzers Andreas Nohl an den Bundespräsidenten in Sachen Snowden und Gedichten von Gerald Fiebig und Lydia Daher beschließt ein überraschend naiver und harmloser Text von Seidel dieses Weltbühnchen, dessen Kapitalismuskritik etwa so aufregend ist wie ein Schulaufsatz. Augsburg-Kritik? Welche Augsburg-Kritik?
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Die besten Brecht’schen Figuren des Abends waren die Herren mit den gelben Krawatten. Ihr Dastehen vor der Bühne, statuenhaft in dunklen Anzügen, Knopf im Ohr und die Hände verschränkt vor dem Bauch, gewann immer mehr den Charakter einer eigenen Inszenierung, die beim Konzert von Bonaparte, als das Theater tobte, ihrem Höhepunkt in der Kunst des aufmerksamen Unbeteiligtseins zusteuerte.
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Ab zur Brechtbühne. Bluespots Productions starten in ihr interkontinentales Theaterexperiment. Drei freie Theatergruppen, dreimal „Der Jasager von Brecht“, drei Zeitzonen. Nur eine der Gruppen spielt tatsächlich auf der Brechtbühne, die anderen werden per Livestream aus Osaka und Chicago dazu geschalten. Heißt konkret: In Osaka ist es fünf Uhr morgens, in Chicago früher Nachmittag. Bluespots legen vor, halten sich eng an Brechts Idee, ein Gemeinschaftserlebnis zu schaffen: Publikum auf die Bühne, Schauspieler ins Publikum. Warum die Schauspieler dafür über der Gürtellinie blankziehen müssen? Man erfährt es nicht. Egal, Pause, dann: Hallo Osaka, ist da noch jemand? Und ob! Japan schläft nicht, die Truppe zeigt die überzeugendste Annäherung an das Stück. Fantastische Kimonos, Schattenspiel, (Sprech-)Gesang, kein überflüssiges Detail. Der „Jasager“ basiert doch auf einem japanischen Stück. Chicago hat es schwer. Der Truppe fehlt das Gespür für den Rhythmus. Das wirkt manchmal unfreiwillig komisch. Dennoch: Experiment geglückt, frappierend dieses Gefühl, zur gleichen Zeit an drei Orten zu sein. Spannend!
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Kultur kann auch laut: Angetan mit weißen Baumarkt-Overalls verkünden Schauspieler des Sensemble Theaters lautstark, wie sich Kulturschaffende künftig Kulturpolitik in ihrer Stadt vorstellen. Sie fordern Planungssicherheit, mehr Transparenz, eine Diskussion über die Aufgaben des Theaters und, und, und. Hinter der Aktion steht die „Ständige Konferenz“, der Künstler, Schauspieler, Architekten aber auch das Theater angehören. Einberufen haben die Konferenz drei Augsburger Gremien: der Kulturrat, der Kulturbeirat und das Kulturnetzwerk.
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Ob heute die Baustatiker im Theater nachmessen müssen? Laut war es bei den theatralisch aufgemotzten Punkrockern von Bonaparte um den Schweizer Tobias Jundt. Lange nicht mehr war das Theater ein so vibrierendes Tollhaus. Viel junges Publikum. Im Jargon der Festivalreden müsste man fast sagen: Brecht hätte das sicher gefallen. Trommeln in der Nacht: Auch dieses Berliner Gastspiel direkt im Anschluss an Nina Hagen war ein Festivalereignis.
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Das Brechtfestival als Antifrustrationsprogramm – der Bremer Bücherei-Experte Meinhard Motzko versuchte in der langen Brechtnacht zu vergessen, dass seine Bremer vom FCA tüchtig eingeschenkt bekommen haben. Motzko, der die Augsburger Stadtbücherei auf einen neuen Weg bringen soll, wurde von FCA-Fan Kurt Idrizovic schon im Stadion wieder aufgebaut. Während der langen Brechtnacht war Fußball dann kein großes Thema mehr.
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Soho-Stage: Die Taktik ist folgende: Die letzte Zugabe von Bonaparte sausen lassen und vor der Karawane zur Soho-Stage eilen. Sie ist aufgegangen. Dort noch Einlass erhalten und im Gewölbe dem koketten Fräulein Brecheisen gelauscht, wie sie Stimmungsschwankungen auslebt. Eine schweißtreibende Angelegenheit – gleichermaßen für das Kollektiv und ihr Publikum.
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Kontrastprogramm auf der Brechtbühne: Die Bonaparte-tauben Ohren müssen sich an „Le concert impromptu“ gewöhnen. Auf den Bombast-Punk-Rock folgt ein klassisches Bläserensemble, auf musikalische Überwältigung das fein Ausmodellierte. Auch hier gilt: Das Programm hatte Klasse. Neue Musik, die auf Weill, Eisler und Berg zurückgreift, dazu Brecht-Texte und -Lieder und eine Bühne, die aussah wie eine Ruinenlandschaft.
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Kofelgschroa zum Ersten: Nein, keine Chance, die Zentrale ist voll, auch kein Platz mehr für die Presse.
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Kofelgschroa zum zweiten: Augsburger Allgemeine gesagt, einfach an dem Mädchen vorbeigelaufen, die niemanden mehr reinlassen wollte. Vorbei am Ausstellungsraum, wo die Besucher der Orangerie gemütlich sitzen, bis zur Bar. Und Stopp. Bis dorthin reicht die Schlange, die in den Konzertraum hineinlugt. Eine Tuba ist zu erahnen. Kofelgschroa spielt. Wer A sagt, der muss nicht B sagen: zurück zur Soho-Stage.
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Irgendwann zwischen ein und zwei Uhr nachts. Alice Francis sitzt auf einem Tisch am Ende des Flurs vor dem Theaterfoyer. Vor einer Stunde ist sie drinnen über die Bühne gesprungen. Heute Brechtfestival, morgen Köln. Wie es ihr gefällt? Gut, aber sie sei müde. Seit 2012 ist sie auf Tour. Ohne Pause.
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Zeit für einen Ortswechsel. Doch im Foyer vor der Garderobe verhext eine DJane die Beine der Gäste. Reihenweise wandern die Mäntel von der Garderobe weiter auf die Ledersofas an der Wand. Gleich können wir gehen, nur noch dieses Lied …
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Vier Uhr morgens, Orangerie. Der Bass rummst durch die alte Post. Ein paar Unermüdliche tanzen noch. Die Soho Stage ist schon verrammelt. Auch im Theaterfoyer hat CJ Rusky das Auflegen eingestellt. Das Chaos ist aufgebraucht. Vielleicht halten wir noch durch, bis es hell wird. Lange Brechtnacht!
Von der Brechtnacht berichten Richard Mayr, Nicole Prestle, Michael Schreiner, Matthias Zimmermann, Miriam Zißler
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