Aus "Hurra" wurde "Haushalten, Aushalten, Maulhalten"
Nach dem Attentat von Sarajevo konnten auch die Illertisser die kommenden Ereignisse lediglich erahnen.
Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg, der am 11. November 1918 mit einer deutschen Niederlage und dem Sturz der Monarchie endete. Auslöser war das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand in Sarajevo, das sich dieses Jahr jährt.
Der Erste Weltkrieg beschränkte sich aber in weiterem Sinne nicht allein auf die Schlachtfelder, auch die sogenannte Heimatfront bekam die Auswirkungen zu spüren, so auch Illertissen.
Der Ort erlebte ab der Jahrhundertwende eine Zeit der Modernisierung: Der Markt bekam eine neue politische Institution, den Magistrat; der Bau des Bezirkskrankenhauses und weitere größere Neubauten belebten das örtliche Handwerk; eine neue Omnibuslinie verband Illertissen mit dem Rothtal. Die Kanalisierung und die Elektrifizierung im Jahre 1914 veränderten nachhaltig das Stadtbild. Die Chronik "1000 Jahre Illertissen" spricht etwas überschwänglich von einer Zeit, in der "Zufriedenheit, Sicherheit und Wohlstand herrschte."
Trommelwirbel und Maueranschläge künden von der Mobilmachung
Als sich aber die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares am 28. Juni 1914 in Sarajevo durch serbische Nationalisten verbreitete, ließen sich die folgenden Ereignisse zwar erahnen, Gewissheit brachte aber erst der bayerische Mobilmachungsbefehl, den in Illertissen am 1. August vorschriftsmäßig Trommelwirbel und Maueranschläge verkündeten.
Der örtliche Magistrat nahm auf seiner ersten Sitzung in der Kriegszeit folgendermaßen Stellung: "Durch Mißgunst von unseren Nachbarländern wird uns Deutschen der längst in Aussicht stehende Krieg mit all seinen Schrecken an Gut und Blut aufgedrungen (…) Möge Gott den für’s geliebte Vaterland und für eine große, gerechte Sache ausziehenden Kämpfern, worunter sich auch viele brave aus Illertissen befinden, den Sieg über die Feinde verleihen." Diese Ansicht, einen von außen aufgezwungenen und somit gerechten Krieg zu führen, deckte sich mit der reichsweiten Meinung. Allerdings sahen sich alle kriegsbeteiligten Nationen gleichermaßen nicht als Aggressor und argumentierten mit dem Verteidigungsrecht.
In den ersten Kriegstagen herrschte in Illertissen betriebsame Hektik. Ausrückende Soldaten bestimmten die Szenerie, denn bis zum Jahresende standen 210 Illertisser unter Waffen. Am Bahnhof konzentrierten sich die emotionalen Abschiedsszenen: Der Illertisser Kriegschronist Albert Vollmann berichtet von Jubel und Gesängen der meist kriegsbegeisterten Jugend, über Bedenken der Älteren bis hin zu Trauer und Klagen der Frauen. Um den Trubel nicht noch zusätzlich anzuheizen, galt für die Truppen strenges Alkoholverbot. Manche Zivilisten meinten, sich auch um das Vaterland durch Spionageabwehr verdient machen zu müssen, indem sie Straßen blockierten und Reisende mit Waffengewalt stoppten und durchsuchten. Die Chronik berichtet über eine Konsulin aus München, die in Illertissen Verwandte besuchen wollte und aufgrund der vielen Leibesvisitationen "verstört" im Markt eintraf.
Der Handel kam vollständig zum Erliegen
Mit der Zeit entspannten sich allerdings die Gemüter und es kehrte zunehmend Ruhe ein: Zahlreiche Geschäfte und Handwerksbetriebe schlossen, weil die Besitzer an der Front kämpften; die Verbindung zum Umland war wegen dem abgezogenen Omnibus und dem auf das Militär beschränkten Eisenbahnverkehr gekappt, daher konnten auch keine Güter ankommen oder abgehen. Der Handel kam vollständig zum Erliegen.
Im Gegensatz dazu herrschte in der Landwirtschaft Hochbetrieb, es war Erntezeit. Freiwillige Helfer aus anderen Berufszweigen kompensierten zu Beginn die Lücke der eingerückten Soldaten. Dies wurde jedoch aufgrund von Nachmusterungen immer schwieriger, da selbst Männern eingezogen wurden, die in Friedenszeiten als ständig kriegsuntauglich gegolten hatten. Noch 1918 mussten elf Illertisser im Alter von 18 Jahren ins Feld ziehen.
Um diesen Arbeitskräftemangel auszugleichen, setzte man ab 1916 Kriegsgefangene aus West- und Osteuropa zur Erntearbeit in Illertissen ein, die dafür Kost und 30 Pfennig Lohn am Tag erhielten. Auch deutsche Soldaten, die eigentlich zur Genesung in Neu-Ulm waren, arbeiteten in Illertissen; die steigende Not konnten aber solche Maßnahmen nicht aufhalten.
Die Lebensmittel mussten rationiert werden
Denn es begann sich die Lebensmittelversorgung der Heimatfront zunehmend zu verschlechtern. Die einsetzende Mangelversorgung war von den Militärs bereits einkalkuliert worden. Ab 1915 begann die Rationierung von Lebensmitteln auf Karten, die beispielsweise 200 Gramm Brot pro Kopf und Tag festsetzten. Es folgten die fleischlosen Tage (Dienstag und Freitag), die zügig zur Woche ausgeweitet wurden. Doch nicht nur Lebensmittel waren "beschlagnahmt" und gegen diese Karten erhältlich, sondern bald auch alle Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, wie Seife, Schuhe, Kleidung oder Autoreifen.
Die Karten boten aber keine Versorgungssicherheit, da auch die rationierten Lebensmittel immer wieder ausgingen, weshalb sich vor den Geschäften und Verkaufsstellen als sichtbares Zeichen der Not lange Schlangen bildeten, die der Volksmund "Butterpolonaisen" taufte. Die Karten wie auch die Höchstpreise umgingen die "Hamsterer", die in landwirtschaftlich geprägte Gebiete zogen, um Nahrungsmittel zu Wucherpreisen zu kaufen. Die Polizei patrouillierte deshalb verstärkt auf dem Illertisser Bahnhof und konfiszierte die illegalen Waren.
Im Winter 1916/17 zeigten sich diese Mängel dann gravierend. Die Kartoffelernte fiel verheerend aus. Es musste auf Ersatz zurückgegriffen werden, der zum Synonym für Hunger und Not wurde: der Steckrübenwinter. Die in der Öffentlichkeit anfangs verbreitete Hoffnung auf einen schnellen Sieg sank und die hungernde Heimatfront klammerte sich an die militärisch anmutende Losung: "Haushalten, Aushalten, Maulhalten".
Die Kirchenglocken sollten von Siegen künden, wurden aber eingeschmolzen
Die anfänglichen Siegesnachrichten, vor allem von der Ostfront, die teilweise zu wochenlanger Beflaggung des Marktes führten, wichen eben diesen monotonen Durchhalteparolen. Die Beschlagnahmungen des Militärs wirkten sich dabei umso drastischer aus, da nichts mehr sicher zu sein schien: Von Flachs über Baumrinde und Obst bis hin zu Kochgeschirr, alles musste dem Ziel des Sieges weichen. Symbolisch kann die für die Illertisser schmerzlich empfundene Abnahme und das Einschmelzen der Kirchenglocken gelten, die den Siegfrieden hätten verkünden sollen.
Am deutlichsten veränderte sich im Krieg an der Heimatfront die Rolle und Stellung der Frauen. Sie übernahmen die Arbeiten auf dem Hof, dem Feld sowie in den Fabriken und auch behördliche Aufgaben. Am augenfälligsten, so der Chronist Vollmann, stach der weibliche Postbote im Ortsbild hervor. Die zwei Illertisser Kriegsbürgermeister waren jedoch Männer: Bis 1917 bekleidete Josef Lumper und danach Karl Jegg diese Position, die beide dafür Orden erhielten; letzterer sogar einen preußischen.
Der Krieg ging auch an der Jugend der Gemeinde nicht vorüber: Für Jungen zwischen 16 und 18 Jahren richtete das Militär Jugendwehren ein. Sie übten das Exerzieren und den "Felddienst" und sollten so dem Heer als Nachschub bereitstehen. Das Krankenhaus bildete Mädchen und junge Frauen zu Krankenhelferinnen im örtlichen Lazarett aus, das seit 1914 Verwundete aufnahm. Insgesamt kamen so 1261 Verletzte nach Illertissen und erhielten medizinische Hilfe.
Vermissten- und Totenmeldungen führen zur Resignation
Die ‚Heimatfront’ dürstete natürlich auch nach Nachrichten von der Front: Die offiziellen Nachrichten gaben ein eher unausgewogenes Bild wieder, da sie meist nur von glorreichen Siegen berichteten. Die Fronturlauber hätten ein authentischeres Bild abgeben können, waren aber eher wortkarg und wollten die Angehörigen nicht zu stark beunruhigen, schreibt Vollmann. Eine weitere Quelle sind die Feldpostbriefe, von denen noch ein paar im Stadtarchiv Illertissen erhalten sind. Die Motive auf den Karten reichen von romantischen, aber immer sittsamen Liebesszenen mit passend süßlichem Gedicht bis zu militärischen Durchhalteparolen, wie "Durch Kampf zum Sieg". Eine Karte zeigt ein Straßenbild von Verdun, die der Soldat an seine Eltern in Illertissen schrieb und mit den Worten beginnt: "Ich bin noch gesund." Über die wahren Verhältnisse blieb aber auch er sehr vage und spricht nur vom "schrecklichen Kriege".
Die militärische Situation, die nach dem Kriegseintritt der USA im Jahr 1917 immer auswegloser wurde, erhöhte auch massiv den Druck auf die deutsche Bevölkerung. Die steigenden Vermissten- und Todesmeldungen führten zu Resignation und der Wunsch nach Frieden, egal zu welchem Preis, gewann immer mehr Anhänger. Am 11. November 1918 unterzeichnete das Deutsche Reich den Waffenstillstand im Wald von Compiègne, was den Weltkrieg offiziell beendete. Aus Illertissen waren 417 Männer in den Krieg gezogen, davon fielen 60, über 100 wurden durch Kugeln, Granaten oder Gas oft auch mehrfach verletzt oder verätzt. Die überlebenden Heimkehrer wurden feierlich im Markt empfangen, jedoch dauerte es bis April 1920, bis auch der letzte Illertisser Kriegsgefangene nach 65-monatiger Haft zurückkehrte.
In Illertissen gündet sich ein Arbeiter- und Soldatenrat
Die politische Situation hatte sich bis dahin stark verändert. Die Monarchie, auch die bayerische, war gefallen. In Illertissen gründete sich ein Arbeiter- und Soldatenrat, der bis 1920 bestand. Ein Gemeinderat, der die abgesetzten königlichen Gremien ersetzte, wurde am 15. Juni 1919 gewählt und der bisherige parteilose Bürgermeister Karl Jegg im Amt bestätigt.
So begann in Illertissen die Weimarer Republik, die 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete und in den Zweiten Weltkrieg führte, dessen Ausbruch sich im kommenden September zum 75. Mal jährt.
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