Wenn die großen Fragen an einem nagen
Von Gersthofen nach Scherneck und zurück – eine Tour zum Philosophieren.
Die große Frage stellt sich bereits auf den ersten Metern dieser Tour. Mir zumindest. Ist der Weg das Ziel? Vielleicht liegt es daran, dass der Radweg meist geradeaus führt – immer geradeaus, am Lechkanal bei Gersthofen entlang – und daher Aufmerksamkeit auf sich zieht. Nicht, dass nun einer meint: Na, die eine oder andere Kurve wird gewiss auch dieser Weg haben! Stimmt, hat er. Oder dass jetzt einer brummelt: Stur geradeaus zu fahren, das ist doch langweilig! Stimmt nicht, ist es nicht. Kein bisschen. Ich würde es „meditativ“ nennen.
Es wird wohl so sein: Wer eine Weile geradeaus fährt, durch nichts abgelenkt, beschäftigt sich zwangsläufig mit den großen Fragen. Fragen, genau, denn inzwischen sind weitere aufgetaucht: Ist womöglich das Ziel der Weg? Oder der Weg einfach der Weg, und das Ziel das Ziel? Mir schwirrt der Kopf.
Dagegen hilft: Nach links und rechts schauen – durch Bäume und Büsche hindurch auf den Lechkanal, links, oder auf die Kiesbänke des Lechs, rechts. Und dabei den Kontrast auf sich wirken lassen zwischen dem Kanal, der einst von Menschenhand geschaffen wurde, und dem Fluss, der an manchen Stellen derart ursprünglich und unberührt aussieht, dass man vergisst, dass der Lärm der Großstadt Augsburg, das Grundrauschen der Autobahn A 8 nur wenige Kilometer entfernt sind.
Eine Radtour zu Orten, die die Region am Laufen halten
Wären da nicht die allgegenwärtigen Strommasten, und, auf einmal, das Wasserkraftwerk Gersthofen, das nach einer Bauzeit von zwei Jahren am 2. Oktober 1901 in Betrieb ging. Der Strombedarf Augsburgs und seines Umlandes wuchs damals stetig. Schon im Jahr 1900 hatten die Farbwerke Hoechst hier ein neues Werk angesiedelt, um Chromsäure zu produzieren. Augsburg war im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum der Textilindustrie aufgestiegen. Der Lech, „der Steinige“, liefert mit seiner Wasserkraft nach wie vor Energie für die Region.
Es macht den Reiz dieser Tour aus, dass sie zu Orten führt, ohne die der Alltag in diesem Wirtschaftsraum nicht funktionieren würde. Orte wie das Wasserkraftwerk, die A 8 oder, später, der Flughafen Augsburg.
Geradeaus weiter. Vorbei an den Brutgebieten des Flussregenpfeifers, die es „von April bis Juni zu schonen“ gilt. Steht auf einer Tafel, vor der ich gerade stehe, und auf der ein Flussregenpfeifer abgebildet ist: ein kleines Kerlchen mit schwarzem Gefieder um die Augen. Ich muss an die Panzerknacker aus Entenhausen denken. Die aus den Disney-Comics. Die mit den Augenbinden. Seltsam: Erst als ich etwas über den Flussregenpfeifer lese, höre ich Vogelgezwitscher, und bin mir sicher: Der Weg ist das Ziel, ganz klar.
Wenn der Weg das Ziel ist – was ist dann Scherneck?
Weiter über St. Stephan, einem Ortsteil Rehlings, vorbei an einem Baumhaus, auf das selbst ein erwachsener Mann neidisch werden kann, weil er nie ein Baumhaus hatte. Warum hatte ich keins? Wieder so eine Frage. Vorbei an Feldern, unzähligen Feldern, immer eben, meist geradeaus. Ich muss kaum in die Pedale treten, komme leicht voran, bis ich zweifle: Wenn der Weg das Ziel ist, was bitteschön ist dann Schloss Scherneck, auf das ich zielsicher zusteuere? Schloss Scherneck ist ein Ziel, keine Frage.
Heute ist es sogar Ziel für Hunderte von Ausflüglern, die das Biergartenfest besuchen. „D’Lechtaler Musikanten“ spielen – zu anderen Gelegenheiten sind es LaBrassBanda oder Haindling –, Bier und Braten schmecken mir, und die großen Fragen sind bedeutungslos geworden. Sollen sich Philosophiestudenten oder -professoren mit ihnen beschäftigen. „Scherneck“ übrigens bedeutet „schroffes Eck“. Treffender wäre: „gemütliches“. Es gibt noch viele solcher Ecken auf dem Rückweg zur Europawiese Gersthofen, einige davon am Autobahnsee. Das Fischerstüble zum Beispiel mit Blick auf die Schwäne im Wasser.
Nach der Tour lese ich ein Interview mit Henry Hübchen, dem Schauspieler. Er sagt: „Man muss die Ziele einfach erst nach dem Erreichen festlegen.“ Kluger Mann.
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