Fritz J. Raddatz: „Niemand bringt einem das Sterben bei“
Genie, Geck, Galan. Der große Literaturkritiker Fritz J. Raddatz ist tot.
Vor einem halben Jahr hatte er sich vom Journalismus verabschiedet. Und noch einmal seine ganze Kunst gezeigt: Fritz J. Raddatz, einer, dem das Wort untertänig war. Der damit pikste, stocherte, stach, verletzte, streichelte, lobte – letzteres aber, wie er sagte, weniger. Von „faltigen Mündern, die den letzten Beifall aufschlabbern“ schrieb er in diesem Artikel, und wie ihm die Töne der Gegenwart nur mehr Geräusche seien, die Wörter klingende Schelle … „Ich bin aus der Welt gefallen.“
Fritz J. Raddatz glänzte überall
Raddatz, 1931 in Berlin geboren, galt als einer der einflussreichsten und streitbarsten Figuren des deutschen Feuilletons. Einer, der überall glänzte, nicht aber im dauerhaften Frieden mit den anderen. Er war Lektor beim Ostberliner Staatsverlag „Volk und Welt“, siedelte 1958 in die Bundesrepublik über und blieb erst einmal bei den Verlagen. Kindler, dann Rowohlt, dort auch stellvertretender Leiter, danach lange Jahre Feuilletonchef der Zeit, bis er dem Dichter Goethe ein falsches Zitat unterschob. Der „Berufsinfarkt“, wie er es nannte. Zugleich schrieb er selbst Romane, Biografien, arbeitete als habilitierter Universitätsdozent, als Übersetzer. Immer aber blieb er: Provokateur, ein „Unruhestifter“, wie er seine autobiografischen Erinnerungen überschrieb, mit denen er 2003 eine heftige Kontroverse auslöste. Raddatz, mutterlos aufgewachsen, erzählte darin von den brutalen Erziehungsmethoden seines Vaters, eines preußischen Offiziers, und von sexuellem Missbrauch. Und er teilte gnadenlos aus, schimpfte über langjährige Weggefährten, Künstler wie Kollegen. Also über fast alle. In Raddatz’ feiner Hamburger Wohnung war irgendwann einmal dann doch jeder namhafte deutsche Schriftsteller der Nachkriegsgeneration zu Gast. Der Ärger traf ihn weniger als der Entzug von Zuneigung. Zum Beispiel, dass Günter Grass ihm grollte. Er war ein scharfzüngiger, rachelustiger, geistreicher Florettkämpfer, aber eben doch einer mit löchrigem Schutz. „Meine Herzhaut verhärtet sich“, schrieb er in seinen Tagebüchern 2002–2012: „Ich kann über das ständige Sterben um mich herum kaum noch Herzrisse empfinden.“
Dass er zuletzt oft als „Legende“ bezeichnet wurde, mochte er nicht. Das klang so, als ob die Welt ihn nicht mehr brauche: ihn, „Genie, Geck, Galan, Paradiesvogel, Polemiker …“, wie der ehemalige Zeit- Herausgeber Theo Sommer über Raddatz schrieb. Wer seine 2014 erschienenen Tagebücher gelesen hat, erlebte einen kranken Mann: „Lebenstraurig – im Maßanzug.“ Seine Grabstätte auf Sylt hatte er sich schon gesichert, den Grabstein gekauft. Jedoch: „Niemand bringt einem das Sterben bei.“ Abschiedsworte. Gestern ist Fritz J. Raddatz 83-jährig gestorben.
Die Diskussion ist geschlossen.