Hinter Schnauzer und Schlagworten
Dieser Philosoph ist nicht auf den „Tod Gottes“ oder den „Willen zur Macht“ zu reduzieren. Jetzt gibt es einen neuen Zugang zu dem Denk-Abenteurer
Ablehnung weckt Neugier. „Nietzsche lohnt sich nicht!“, so belehrte ein Philosophieprofessor den damaligen Göttinger Studenten Andreas Urs Sommer. Dieser suchte fortan herauszufinden, ob das denn stimme. Heute lehrt Sommer Philosophie an der Universität Freiburg im Breisgau und leitet die Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Das ist eine klare Antwort auf ein klares Verdikt.
Dass diese Antwort jenseits aller Fachsimpelei allgemeinen Zündstoff birgt, das beweist Sommers Buch „Nietzsche und die Folgen“. Er führt die von dem Augsburger Literaturwissenschaftler Helmut Koopmann mit „Schiller und die Folgen“ gestartete Reihe des Metzler-Verlags auf einen weiteren Höhepunkt.
Nietzsche verschwindet hinter seinem mächtigen Schnauzer, mehr noch hinter Schlagworten wie „Wille zur Macht“, „Ewige Wiederkunft des Gleichen“, „Jenseits von Gut und Böse“, „Übermensch“ und so weiter. Auf diese Art wird ein verführerischer Denker eingeparkt, der in seinem alles andere als systematischen und widerspruchsfreien Werk bis dahin unbeschrittene Wege begangen hat. Es war ihm um die Umwertung der Werte jenseits von Religion und Moral zu tun, die Selbstumwertung eingeschlossen.
Sommer zeichnet den 1869 mit gerade 25 Jahren in Basel zum Philologie-Professor Berufenen mit geschliffener Feder als einen „Luft-Schifffahrer des Geistes“ („Morgenröthe“), den die Fragen, Irritationen und Denkversuche in das bislang Ungedachte treiben. Er pflanzt der Philosophie den „historischen Sinn“ ein, unterminiert alles Totalitätsgebaren, räumt die hehren Begriffe wie Wahrheit, Gott und Gerechtigkeit beiseite, schießt gegen die „Hinterweltler“, bespielt die Denkbühne mit einem Figuren-Arsenal, dem die Maskierung, die Parodie und Heiterkeit ebenso wenig fremd ist wie die donnernden Worte eines Zarathustra.
Friedrich Nietzsche erweist sich als meisterhafter Jongleur literarisch-aphoristischer Formen und schonungsloser Experimente. Dieses durch Übergänge und fließende Bewegungen angestachelte Denk-Schreiben, dem der Sicherheitsabstand fremd ist, verwehrt die Entnahme wohlfeiler Thesen. Sommer mahnt zur Vorsicht, Lehren sogleich dem Autor Nietzsche dogmatisch zuzuschlagen. So sei die in Abschnitt 125 der „Fröhlichen Wissenschaft“ formulierte Diagnose vom Tod Gottes selbst „keinem Subjekt zugeordnet; niemand übernimmt für sie die Verantwortung“; womöglich liege hier eine „experimentalphilosophische Hypothese“ vor.
Nicht vergessen seien Nietzsches Wandlungen. Er verabschiedet die Mythen und begründet sie im „Zarathustra“ neu. Er feiert die „kulturelle Rundumneuerung“ durch Richard Wagners Musik, eignet sich sogar die Antisemitismen des Komponisten an – und führt später gegen dessen „Lüge des großen Stils“ Bizets heitere „Carmen“ ins Feld.
Die Hälfte des geschickt mit Biografischem durchwirkten Bandes gilt Nietzsches Nachwelt. Zu Lebzeiten wurde er kaum gelesen, was ihn nicht an einer Art Selbstvergöttlichung hinderte. Am Ende standen die psychische Zerrüttung und der Tod 1900 in Weimar.
Doch kurz danach geht Nietzsches Stern auf. Der Dichter Gottfried Benn nennt ihn „das größte Ausstrahlungsphänomen der Geistesgeschichte“. Sommer sortiert das teils bierernste, teils skurrile Gestrüpp der Festschreibungen, Editionen und Monografien. Nietzsche, so beendet der Autor sein tiefschürfendes, mit Vergnügen zu lesendes Werk, stoße uns „ins schreckliche und schöne Abenteuer der weltanschaulichen Unbehaustheit“.
Metzler, 208 S., 16,95 ¤
Die Diskussion ist geschlossen.