In Frankfurt stürzt das Neue und das Alte blüht
Nirgends wurde um die Frage, wie mit der Kriegszerstörung anzugehen sei, so gerungen wie in der Stadt am Main. Die neue Altstadt zeigt: Es hat sich gelohnt.
In Frankfurt ist es gerade ein bisschen wie vor einiger Zeit in Hamburg. Wie dort die Elbphilharmonie, so wollen in der Stadt am Main dieser Tage alle die neue Altstadt sehen. Diese 35 frisch errichteten Häuser, die auf einem fußballfeldgroßen Areal im historischen Herzen Frankfurts stehen zwischen dem Römer genannten Rathaus und dem Dom. Auf den Gassen und Plätzen dazwischen recken Einwohner und Touristen ihre Hälse die neuen Fassaden entlang hoch, und wo die eine Architekturführung gerade um die Ecke biegt, kommt die nächste Gruppe der Wissbegierigen schon heraufgezogen.
Die neue Altstadt, vor ein paar Wochen offiziell eingeweiht, ist tatsächlich das Hinschauen wert. Handelt es sich bei den Neubauten doch um Rekonstruktionen nach dem Vorbild von Frankfurter Altstadthäusern, die 1943/44 im Bombenhagel untergegangen waren. Bei 15 der jetzt errichteten Häuser handelt es sich um „schöpferische Neubauten“, bei denen nach Maßgabe erhalten gebliebener Dokumente versucht wurde, dem Originalzustand so nahe wie möglich zu kommen. Am staunenswertesten ist das bei der Goldenen Waage gelungen, einem Haus mit ornamentreichem Fachwerk und aufwendiger Bemalung. Bei den übrigen 20 Gebäuden handelt es sich zwar um neue Entwürfe, doch unterlagen sie strengen Gestaltungsvorschriften: Grundrisse auf kleinen Parzellen, Verwendung originaler Materialien, spitzwinkelige Satteldächer und mehr. Und doch, bei aller Anlehnung an die Häuser der Vorkriegs-Altstadt blieb Raum für zeitgenössische architektonische Interpretation.
„Unterkomplexes Heile-Welt-Gebaue“
Von Anfang an war der Wiederaufbau heftig umstritten, wurde er – weit über Frankfurt hinaus – geradezu zum stadtplanerischen Präzedenzfall hochstilisiert. Jetzt, nachdem die Bauzäune verschwunden sind, findet das Resultat enorme Zustimmung, wenn nicht gar Begeisterung, und gerade die Frankfurter meinen, dass da eine Wunde endlich zugeheilt sei, dass etwas für die städtische Identität Unverzichtbares an seinen Platz zurückgefunden habe. Aber auch die Kritiker des 200-Millionen-Euro-Projekts sind nicht verstummt. Geschichtsvergessenes Mimikry, lautet der Einwand, und es gibt sogar Stimmen, die in der Altstadt-Rekonstruktion den steinernen Ausdruck der erstarkenden rechten Tendenzen sieht. Im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, schräg gegenüber der Altstadt auf der anderen Seite des Mains, sind zum seit Jahren, Jahrzehnten tobenden Streit um das Für und Wider eines Wiederaufbaus markante Stimmen auf einer langen Wand zusammengetragen worden. „Unterkomplexes Heile-Welt-Gebaue“, geben sich die einen unversöhnlich, während es von der Gegenseite schallt: „Einen einzigen Straßenzug zu rekonstruieren – das können die Modernisten den Frankfurtern doch zugestehen.“
Im Architekturmuseum haben sie der neuen Frankfurter Altstadt eine Ausstellung gewidmet, die nicht nur die unmittelbare Entstehung des Projekts zwischen Dom und Römer thematisiert, sondern das städtebauliche Ringen um die Altstadt bis an den Beginn der Moderne zurückverfolgt. Die Themenstellung ist relevant über Frankfurt hinaus, denn in allen größeren deutschen Städten stellte sich als Folge von Industrialisierung und Landflucht schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage, wie mit alten Stadtkernen zu verfahren sei, deren Strukturen oft noch aus dem Mittelalter stammten. Eine besondere Zuspitzung erfuhr die Debatte nach 1945, wiesen doch alle diese Städte schwerste Verwüstungen auf, waren die einstigen Stadtzentren oftmals so gut wie nicht mehr vorhanden. Sodass die Alternative lautete: wiederherstellen oder neu bauen?
In Frankfurt wurden in der Nachkriegszeit die Diskussionen darüber, was mit der ausgelöschten Altstadt zu geschehen habe, dadurch kompliziert, dass es sich beim dem Gebiet zwischen Dom und Römer um hoch geschichtsgesättigtes Terrain handelte. Auf dem „Königsweg“ – so heißt auch die zentrale Gasse der neu entstandenen Quartiers – wandelten einst die deutschen Kaiser und Könige nach ihrer Krönung im Frankfurter Dom. Frankfurt blieb bei der Wiederbebauung der Altstadt die ganzen 50er Jahre hindurch unentschlossen, das Gebiet diente zu der Zeit als Autoparkplatz. 1963 fiel dann nach einem Wettbewerb die Entscheidung für eine moderne Bebauung, die in die Errichtung des Technischen Rathauses mündete: Einen unmittelbar vor den Dom hingepflanzten Beton-Monolithen, der in seinen Dimensionen alle frühere Kleinräumigkeit des Areals ignorierte. Richtig warm geworden mit diesem Brocken sind die Frankfurter nie.
Ein Bau wie ein Maschinengewehr
Wie um diesen Gewaltakt wieder gut zu machen, aber auch, um dem inzwischen aufkeimenden Image der kalten Banken-City mit ihren Hochhäusern entgegenzusteuern, wurde Anfang der 80er Jahre beschlossen, an der Ostseite des Römerberg-Platzes, gegenüber dem Rathaus, eine Handvoll rekonstruierter Fachwerkhäuser zu errichten. Doch wenig später schlug das Pendel wieder in die Gegenrichtung aus, als mit der Kunsthalle Schirn zwischen Römer und Dom ein langer Riegel im Stil der Postmoderne hochgezogen wurde. Ein Kritiker damals sah den altehrwürdigen Dom durch den Neubau wie durch ein „Maschinengewehr“ bedroht.
Nun war der Dom-Römer-Bereich weitgehend wieder bebaut, doch unterschwellig gärte es weiter. Als zur Jahrtausendwende sich das gerade mal drei Jahrzehnte alte Technische Rathaus als sanierungsbedürftig erwies, stand für die Stadt bald der Abriss fest. Wieder wurde für das Areal ein Wettbewerb ausgelobt, wieder sah der Siegerentwurf eine moderne Bebauung vor. Inzwischen aber hatten Interessengruppen in der Bürgerschaft zunehmend Unterstützung für den Plan einer Altstadt-Rekonstruktion gefunden, und auch im städtischen Wahlkampf spielte das Thema eine Rolle. 2006 setzte die neu gewählte schwarz-grüne Koalition den Wiederaufbau auf ihre Agenda.
Jetzt also ist das Werk vollbracht, und wie ein Triumph-Spruch liest sich, was an der Fassade eines der neuen Häuser eingelassen ist: „Das Neue stürzt und altes Leben blüht aus den Ruinen“ – ein Schiller-Wort, das im Original natürlich andersrum geht. Wichtiger aber wird von nun an die Frage sein, wie die neue Altstadt angenommen wird, wie sie sich – mit ihren sehr heutigen Läden und Lokalen entlang der Gassen wie mit ihren innenstadttypisch sündteuren Wohnungen in den oberen Etagen – mit Leben füllen wird. Ruft man sich den vorherigen Zustand in Erinnerung und sieht man nun in die Gesicht all derer, die da herumstehen und staunen, stehen dafür die Aussichten ganz gut.
Die immer neue Altstadt. Bis 10. März 2019 im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt. Geöffnet Di und Do bis So von 11 bis 19 Uhr, Mi bis 20 Uhr. Der sehr lesenswerte Katalog (Jovis Verlag) kostet im Museum 48 €.
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