Das unfeierliche Date mit der Demokratie
Gewählt wird in Deutschland zweckmäßig - in der Grundschule oder der Mehrzweckhalle. Ohne Glanz und Gloria. Das sagt vermutlich mehr über unser Gemeinwesen aus als uns lieb ist.
Es soll ja sogar Leute geben, die nackt abstimmen, in der Nasszelle. Liegen in der Badewanne und studieren den Wahlzettel. Und bevor es lauwarm wird und die Zehen schrumpelig und der Schaum zusammenfällt, schnell noch zwei feuchte Kreuze. Erststimme, Zweitstimme – erledigt. Morgen eintüten, fertig. Andere wählen vielleicht im Bett, vor dem Fernseher nach der Tagesschau oder sonntags am Frühstückstisch neben dem frisch geköpften Ei. Fibronil? FDP? Che Guevara? Den Eierkopf von der Ausfallstraße? Warum ist die Butter so teuer? Die kriegen jetzt die Quittung! Frau, bring mir mal ’nen Kugelschreiber. Und Salz fehlt!
Seit es immer mehr Briefwähler gibt, gibt es auch immer mehr unbekannte Wahlorte. Die Abstimmungen verlagern sich mehr und mehr ins Private, Nichtöffentliche, Beliebige, Uneinsehbare. Man kann nur mutmaßen, was die Heimarbeiter der Demokratie so treiben und wo. Unbekanntes Terrain. Deutschland privat. Wahllokal? Alles denkbar, auch der Lokus. Gibt es Untergrund-Wahlpartys in Hobbykellern? Lassen die Briefwähler den ausgefüllten Wahlzettel offen auf dem Küchenbuffet liegen, bevor er Tage später in den Umschlag kommt und zur Post gegeben wird? Hängt der Wahlzettel an der Pinnwand im Flur neben dem Zettel von der Altkleidersammlung? Wählen welche abends halb im Suff, weil sie sich in Stimmung bringen müssen für die Ausübung dieses Grundrechts? Gibt es Menschen, die sich ein letztes Mal in ihren Diesel setzen und in der Garage wählen, das Auto als Wahlraum mit Kindersicherung?
Wir sehen nie, wie wo welches Kreuz zustande gekommen ist. Aber was augenfällig ist, ist dies: Es gibt eine galoppierende Individualisierung des Wahlaktes. Unübersehbar ist die Inflation der Wohnzimmerwahl-Option – bei dieser Bundestagswahl werden es noch einmal deutlich mehr Briefwähler werden als 2013, als auch schon 10,7 Millionen Bundesbürger ihr Kreuzchen daheim machten. In den vergangenen Wochen meldeten die Wahlämter rege Nachfrage bis beängstigenden Antragsansturm. Rekorde überall: Allein in Köln gingen vor dieser Bundestagswahl fast 200.000 Wahlscheine per Post raus. Es gibt Landkreise und Städte, in denen schon fast jeder zweite Wahlberechtigte nicht mehr vor die Türe geht, um seine Stimme abzugeben. Wen wundert’s in Zeiten, da es Online-Beichtstühle gibt?
Direkter als im Wahllkoal kann Demokratie nicht sein
Briefwahl jedenfalls: ein Massenphänomen. Im Duell Wohnzimmer gegen Wahllokal gerät Letzteres immer stärker unter Druck. Küchentischdemokratie. Die BRD wählt daheim – Bequemrepublik Deutschland. Bis 2008 musste ein Wähler zumindest proforma noch am Wahltag verhindert sein, auf Mallorca oder im Bayerischen Wald oder bei der kranken Oma, um die Briefwahl zu rechtfertigen. Mittlerweile kann jeder ohne Begründung wählen, ob er sich den Stimmzettel lange vor dem Tag der Entscheidung nach Hause schicken lässt wie eine Pizza oder ob er am eigentlichen Wahlsonntag über die langen Gänge einer Schule zu seinem Klassenzimmer geht, wo er am Kinderpult hinter einem Paravent oder Vorhang „live“ wählt.
Es ist ein Raumgefühl wie im Fotofix-Automaten am Bahnhof. Halb abgeschottet, aber die Beine stehen in der Wahlraumöffentlichkeit. Etwas so Archaisches wie ein simpler Stift liegt bereit, und das Sicherheben nach dem Ankreuzen leitet über in etwas fast Erhabenes, das abgeschlossen wird mit dem Einwerfen. Das hat etwas gemäßigt Feierliches, ist ein Akt, ein Ritual, eine Wahlchoreografie mit Publikum. So eine Urne hat zwar auch nur einen Schlitz – aber eine andere Präsenz als der Briefkasten um die Ecke. Es ist ein Unterschied wie persönlich im Laden einkaufen oder bei Amazon. Direkter als im Wahllokal kann Demokratie nicht sein: Es ist die Abstimmung der kürzesten Wege. Und die Vorstellung, dass die eigenen beiden Stimmen den ganzen Tag in dieser Urne bleiben, auf anderen Kreuzchen ruhen, von nachgeworfenen langsam bedeckt werden und nach 18 Uhr umgestülpt auf einem Tisch liegen – das hat etwas.
Natürlich ist die Abstimmung selbst auch im Zimmer der 4a geheim und uneinsehbar – aber in der Classic-Variante im Wahllokal, wo vorne Leute sitzen und Häkchen hinter den Namen machen und einen mit Grüß Gott empfangen, hat sie doch etwas Staatsbürgerliches. Die Wahl ist eingebettet in einen Rahmen. Man macht sich auf den Weg, um seine Stimme dazulassen. Eine Schule am Sonntag ist ein Ort größtmöglicher Ereignislosigkeit und Flurleere, ganz in sich selbst ruhend. Nichts Repräsentatives – die Orte, an denen wir unsere Volksvertreter wählen, sind von einer gewissen Abgenutztheit. Hier weht der Odem des Alltags, hier herrscht die Stille, in der man sogar das Kratzen des Buntstifts auf dem Wahlzettel hören kann.
Die Schule ist das Durchschnittswahllokal
Aber, und das ist der entscheidende Unterschied: Es ist Öffentlichkeit. Auf dem Weg zum Wahllokal sieht man andere, Mitwähler sozusagen. Sie kommen einem entgegen, sie gehen mit einem die Treppenstufen hinauf, die Wahlbenachrichtigung in der Hand, man sieht ihre Beine unterm Schülerpult gegenüber. Abschreiben verboten, wie in allen Schulen … Demokratie heißt: Bewegung. Raus aus der Wohnung, auf die Straße – und dorthin zurück, wo man ewig nicht wahr: In die Schule. Das ist das Durchschnittswahllokal.
Aber es gibt ja noch so viele andere. Mehrzweckhallen. Die Sportgaststätte. Altenheime. Das typische deutsche Wahllokal hat einen halbamtlichen Charme – es ist ein Ort ohne Glanz und Gloria. Selten Stuckdecke, keine Samtvorhänge. Sachlichkeit. Abgegriffene Geländerhandläufe. Nutzwertigkeit. Funktionalität. Gediegenheit. Heizkörperbloßheiten. Jeder Sparkassenbürotrakt ist eleganter ausgestattet. Die Gewalt, die vom Volke ausgeht, wird gelenkt auf Tische und Pulte, die oft eher aus dritter Hand stammend als nach Secondhand aussehen.
Ein leichtes Fremdeln mit dem Wahllokal gehört dazu
Irgendwas Unprätentiöses, eine Kreuzung zwischen Kantine und Kabine: Im Grunde ist das Wahllokal ein passendes Abbild unseres Gemeinwesens. Alles gut organisiert, gut ausgeschildert, verlässlich, in guten Händen, zweckmäßig, unfeierlich, gepflegt, praktisch, unauffällig, sehr durchschnittlich. Linoleumboden ist nicht prickelnd, aber strapazierfähig. Das Date mit der Demokratie findet im Erdgeschoss statt, nicht an der Bar im 20. Stock mit Blick über die Stadt oder wenigstens die Ostsee. Ein leichtes Fremdeln mit dem Ort gehört dazu – das Gefühl, ein Wahllokal zu betreten, unterscheidet sich nicht so stark von jenem, auf Besuch in ein Krankenzimmer zu kommen. Man fühlt sich gut, seiner Pflicht zu genügen und da zu sein, ist aber froh, nicht den ganzen Tag hier verbringen zu müssen wie die Wahlhelfer, die stoischen Helden jedes Wahltags. Wie muss es sich anfühlen, von niemandem beneidet zu werden?
Die Stille, die im Wahllokal herrscht, kann etwas Beklemmendes haben. Wenn die Gummisohlen quietschen und sonst kein Geräusch. Wenn das Zurechtrücken des Kinderstuhls einem unangenehm laut erscheint. Wenn man das Gefühl hat, dass andere doppelt so lange und doppelt so geräuschlos brüten in ihrem Brustkorbkasten als man selbst. Aber diese Stille vermittelt auch etwas von der Ernsthaftigkeit des Vorgangs. Jetzt, hier, in diesen Minuten, kommt es darauf an – und die Vorstellung, dass irgendwo jetzt ein Handy bimmelt oder zwei sich flüsternd über Rheuma unterhalten, ist unerträglich. Und nach Verlassen des Wahllokals, wieder draußen an der Sonntagsluft, fällt einem ein: Ganz vergessen, sich die Kinderzeichnungen an der Wand genauer anzuschauen. Nächstes Mal.
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