Räuchern: Wie ein altes Ritual im Allgäu gepflegt wird
Jetzt ist wieder Räucherzeit. Immer mehr Menschen interessieren sich für dieses uralte Ritual. Eine Expertin verrät mehr.
Und dann, als aus der doppelwandigen feuerfesten Schüssel der Rauch aufsteigt und ein würziger Duft die Nase hinaufkriecht, versteht plötzlich sogar der Vernunftmensch die Magie hinter diesem Ritual, einer Art Ur-Aromatherapie. Es dämmert draußen, es ist kalt und es regnet im Oberallgäu. Die Natur hat sich auf den Winter vorbereitet, riecht nun eher matschig-modrig. Doch plötzlich verwandelt sich ein Teil der getrockneten Pflanzen auf der weiß glühenden Kohle in Rauch, wird vom kalten Dezemberwind hin und her geweht, erfüllt die Luft mit einem frischen Duft und erinnert daran, dass die dunkle Jahreszeit bald wieder vorbei, bald wieder Sommer sein wird. So riecht wohl Hoffnung.
Hoffnung, Vertrauen, Zuversicht – darum geht es seit jeher beim Räuchern, das hierzulande vor allem zur dunklen Jahreszeit seine Tradition hat. Natürlich auch um guten Geruch. Neu ist aber, dass sich in digitalen wie aufgeklärten Zeiten plötzlich wieder mehr Menschen für dieses uralte, naturverbindende Ritual interessieren, das im Allgäu die Zeitenwende überlebt hat. Manch einer informiert sich in einem der zahlreichen Räucherratgeber im Internet. Manch anderer landet auch bei Gerti Epple aus Weitnau, die uns auch erklären kann, warum die Adventszeit so typisch riecht.
Einst wäre sie ob des Wissens um die heimischen Kräuter und deren Wirkung wohl als Hexe beschimpft worden. Heute passen ihre Titel gar nicht alle auf eine Visitenkarte: Vorsitzende des Vereins Allgäuer Kräuterland, Allgäuer Wildkräuterfrau, Ausbilderin für Wildkräuterführer, Fachfrau für rituelle Räucherkunde, ausgebildete Schamanin, Ernährungswissenschaftlerin – und sie arbeitet als Bildungsberaterin am Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Kempten.
Wenn jemand krank war, wurde früher geräuchert
Dass sich Gerti Epple mit Kräutern auskennt, ist aber auch ohne Visitenkarte schnell klar. Gerade blickt die schlanke Frau mit den glatten langen Haaren in eine Muschelschüssel, untersucht mit ihrem Zeigefinger die Räuchermischung, die sie mitgebracht hat. Sie rattert Pflanzennamen runter, Salbei, Fichtenharz, Thymian, Engelwurz, Kardamom …. Das alles kennt sie schon seit Kindertagen. Und auch, wie mit etwas Baumwollgarn aus Salbeiblättern oder Lavendelstängeln Räuchersticks werden.
„Mein Großvater war sehr spürig und naturverbunden. Meine Mutter hat viel geräuchert“, sagt Gerti Epple und erinnert sich auch, dass die Räucherei daheim ohne großes Brimborium ablief und einfach in den Alltag eingebettet war: „Mutter trennte nicht zwischen Räucherwerk und Tee. Sie hatte alle ihre Kräuter in Gläsern in der Küche. Ab und zu streute sie welche auf die heißen Platten des Holzherds.“ In den Raunächten ging sie mit einer Rauchschale durch Haus und Stall, böse Geister vertreiben. Wenn jemand krank war, wurde geräuchert. Und wenn „die Kinder mal kratzig drauf waren“ – dann gab’s ein bisschen Johanniskraut auf die Herdplatte. Haupträucherzeit ist zwischen Allerheiligen und Ostern, doch das Ritual hat die Familie das ganze Jahr über beschäftigt. Sobald der Schnee weg war, ging es los, Kräuter sammeln und trocknen – so macht das Gerti Epple noch heute.
„Für mich war das alles damals ganz selbstverständlich. Erst als ich zum Studium nach Franken ging, wurde mir klar, dass viele dieses Ritual nicht mehr kennen“, sagt Gerti Epple. Im Laufe der Jahre hat sie sich immer mehr Wissen dazu angeeignet, hält Vorträge, gibt Kurse und wird gerufen, um Häuser auszuräuchern oder Energieblockaden zu erspüren. Auweia, Esoterik, denkt sich vielleicht jetzt mancher Vernunftmensch. Solche Ressentiments kennt Gerti Epple. Als sie mit dem Räuchern anfing, seien die Vorbehalte jedoch deutlich größer gewesen. „Vor 18 Jahren hätte ich keinen Räuchervortrag gehalten, jetzt ist das anders“, sagt die Mutter von drei Teenagern und legt neue Kräuter auf die Kohle in der doppelwandigen Schale. Beim Räuchern sind die Grenzen zwischen Physik und Esoterik, zwischen Wissen und Glauben wohl mindestens genauso fließend wie die Ränder der Wolken, die da nun wieder über der Kohle aufsteigen.
Darum mögen wir bestimmte Gerüche in der Adventszeit so sehr
„Wir begeben uns zurück ans Lagerfeuer vor der Höhle“, sagt Gerti Epple über das Ritual und konkretisiert: „Unsere Nase ist mit dem Stammhirn verbunden, dem ältesten Teil unseres Gehirns, der unsere Instinkte steuert.“ Wissenschaftlich erwiesen. Ebenso: Unser Gehirn kann durch Düfte Erinnerungen und Gefühle abrufen. Zum Beispiel: Plätzchenduft, Tannenaroma – Geborgenheit, Gemütlichkeit, Kindheit. Mehr noch: Wissenschaftler fanden heraus, dass Duftstoffe auch ins Blut geraten und so das Gehirn beeinflussen können. Linalool, das in Lavendel steckt, wirkt beispielsweise stressmindernd. Von daher ist es für Gerti Epple auch logisch, dass wir hierzulande den Brauch haben, uns im Winter einen Nadelbaum ins Wohnzimmer zu stellen. „Die ätherischen Öle aus den Fichtennadeln wirken antidepressiv“, sagt sie. Ähnlich verhalte es sich mit den anregenden Weihnachtsdüften Zimt, Orange, Nelken. Daher mögen wir also diese Gerüche in der Adventszeit so sehr.
Beim Räuchern geht es ohnehin nicht nur darum, wohlriechenden Rauch zu erzeugen. „Wir sind nicht nur der körperliche Mensch, wir haben auch Geist und Seele. Diese drei kann man nicht trennen“, sagt Gerti Epple und erklärt Räuchern ganzheitlich: Der Körper nehme wahr, dadurch knüpfe der Geist an Erinnerungen an und könne auf der Seelenebene noch weiter zurück ins kollektive Unterbewusstsein gehen. In Zeiten, als die Angst vor der Natur groß war. Vor allem im Winter. Kommt jetzt der Bär und frisst mich auf? Reichen die Vorräte? Wen wundert’s da, dass die Menschen Mut und Zuversicht im Räuchern suchten?
Und heute? Die letzten Kräuter sind verbrannt, Gerti Epple entsorgt die Asche in einem nassen Beet. Der eine hat nur gerochen, der andere auch gefühlt – den Duft des Rauches an der Jacke nimmt jeder mit heim.
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