Rundgang: Das sind die Highlights der Documenta 14 in Kassel
Für 100 Tage ist Kassel wieder Austragungsort der Weltkunstschau Documenta: Spaziergänge durch eine disparate Landschaft, in der Lust und Frust nahe beieinanderliegen.
Ein hagerer Mann mit Hund an der Leine und Hut auf dem Kopf spaziert durch die Karlsaue in Kassel. Er überquert einen nicht sehr tiefen Graben, der auf 100 Metern Länge und einem Meter Breite mitten durchs Parkgrün ausgehoben ist – und kehrt wieder um. Es ist sein Graben, sein Beitrag zur Documenta 14. Der Mann ist Lois Weinberger, 70, Österreicher – ein Künstler, der mit Natur und Pflanzen arbeitet, mit Wildwuchs. Weniger der Graben als vielmehr der große Hügel des Erdaushubs am Ende ist Weinbergers Werk – auf dem Haufen soll wachsen, was der Zufall anweht.
Lois Weinbergers Erdarbeit gehört zu den unauffälligen künstlerischen Interventionen zur Documenta im Stadtraum von Kassel, was man vom rauchenden Zwehrenturm des Fridericianums, einem der zentralen Ausstellungsorte der Documenta, nicht behaupten kann. Daniel Knorr lässt es hier qualmen, als sei ein Schwelbrand ausgebrochen, und zeigt an: Die weltgrößte Kunstfabrik in Athen und Kassel arbeitet. Anfangs riefen besorgte Kasseler noch die Feuerwehr, inzwischen hat man sich an den Kunstnebel gewöhnt. Habemus Documenta.
Themen der Documenta 14: Flucht, Migration und Kolonialismus
Vielleicht ist das ja auch eine Qualität, wenn sich das Getriebe der Stadt ein Kunstwerk einverleibt, als wäre es immer schon da. So ergeht es dem aus Nigeria stammenden US-Künstler Olu Oguibe mit seinem 16 Meter hohen Obelisken, den er neben eine Trambahnhaltestelle auf dem belebten Königsplatz im Herzen der Documenta-Stadt Kassel aufgestellt hat. In vier Sprachen und in goldenen Lettern ist darauf ein Bibelzitat geschrieben: „Ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich beherbergt.“ Die meisten Passanten gehen achtlos an der Betonstele vorüber. Oguibe greift zwei der großen Themen dieser Documenta 14 auf: Flucht und Migration sowie Kolonialismus. Obelisken verschleppten die Europäer einst aus Ägypten und pflanzten die Beute als Denkmal ihrer Macht in ihren Hauptstädten auf. Nun ist der Obelisk Symbol für Gastfreundschaft und Offenheit.
„Ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich beherbergt“: Wer von hier aus weiter nordwärts spaziert, kommt in das Kassel der Einwanderer und Zuwanderer. Die Nordstadt ist ein Schwerpunkt der Documenta – und nirgendwo lässt sich das Konzept des Spaziergangs als Weltaneignungsstrategie besser praktizieren als hier, zwischen Dönerläden, Durchschnittsarchitektur, graffitibunten Unterführungen, türkischen und arabischen Cafés und Geschäften. Ein Viertel im Umbruch, neben baufälligen Hallen stehen krachneue Glasbauten der Universität auf Industriebrachen.
Documenta 14 in Kassel: Die Highlights
Der Schweizer Flaneur und Soziologe Lucius Burckhardt (1925 bis 2003), der lange Jahre an der Uni Kassel lehrte und die „Promenadologie“, die Spaziergangswissenschaft, begründete, sagte: „Die Wahrnehmung beruht auf dem kinematografischen Effekt des Spazierengehens.“ Und: „Wer schnell ist, hat keinen Blick fürs Detail.“ Es überrascht deshalb nicht, dass sich der künstlerische Leiter der Documenta, Adam Szymczyk, und sein internationales Kuratorenteam mit ihrem Ausstellungskonzept, das erstmals die Kasseler Nordstadt und ungewöhnliche Orte dort mit einbezieht, ausdrücklich auf Burckhardt berufen.
Besucher können Spaziergänge buchen und so bis zum Nordpark hinaufflanieren, wo Agnes Denes (*1938, Budapest) eine neun Meter hohe grüne Pyramide errichtet hat, die als Gemeinschaftsprojekt bepflanzt worden ist. Die „Lebende Pyramide“ soll wachsen während der 100 Tage Documenta – und hat damit etwas gemeinsam mit dem Monument, das zweifellos das Wahrzeichen dieser Documenta 14 ist: der Parthenon der (verbotenen) Bücher, den die argentinische Künstlerin Marta Minujin (*1941) auf den Friedrichsplatz gebaut hat – dort, wo die Nazis 1933 Bücher verbrannt haben. Der ganze Tempel, ein Metallgerüst, im Maßstab 1:1 (65,5 Meter lang!) eine Nachbildung des antiken Säulenbaus auf der Akropolis in Athen, wo die zweigeteilte Documenta im April begann, ist verkleidet mit gespendeten Büchern, die in transparente Folie eingewickelt sind. Von Bert Brecht über Thomas Mann bis Goethe und Schiller: Zu den 40 000 Bänden, die bisher verbaut sind, sollen noch einmal so viele dazukommen. Jeder kann ein Buch mitbringen, die Box vor dem Tempel füllt sich täglich.
Obelisk, Pyramide, Tempel – im Außenbereich nimmt die Documenta 14 „im Zeitalter der Unsicherheit“ für ihre Botschaften Anleihen beim klassischen Kulturerbe der Menschheit. Für Weltoffenheit, für Solidarität, für die Freiheit der Kunst. Dazu passt, was der Spaziergänger auf großen Bannern liest, die der deutsche Hans Haacke gehängt hat: „Wir (alle) sind das Volk.“ Diesem klassischen Kanon stellt der irakische Künstler Hiwa K (*1975) gegenüber der Documenta-Halle ein Wabengebilde aus 20 gestapelten, etwa sechs Meter langen Rohren entgegen, wie man sie als Abwasserkanäle kennt. Die Rohre (Durchmesser ein Meter) sind wohnlich eingerichtet – mit allem, was zur Behaustheit des Menschen gehört, vom Waschbecken übers Bett und die Topfpflanze bis zur Kaffeekanne. Die Großraumskulptur erzählt vom Schutzbedürfnis ebenso wie vom Zusammenleben in der Gesellschaft – ein Puppenhaus der Globalisierung, eine Inszenierung zwischen Offenheit und Beklemmung.
Documenta in Kassel: Vorhang aus Jutesäcken
Mit einem aus zerschlissenen Jutesäcken zusammengenähten Kleid hat Ibrahim Mahama (*1987, Ghana) die Gebäude der alten Torwache in Kassel überzogen. Die Verhüllung der Häuser mit gebrauchten Kaffee-, Kakao- und Kohlesäcken aus Ghana ist nicht nur ein Spurenbild, das von Handel, Warenströmen und menschlicher Arbeit erzählt. Mahama, der 2015 mit einem gigantischen Vorhang aus diesen Jutesäcken bei der Biennale in Venedig überzeugte, liefert auch einen ästhetisch überzeugenden Beitrag zu dieser Documenta der Botschaften, Rechercheprojekte und politischen Positionierungen.
Auf den äußeren Augenschein allein kann sich der Spaziergänger nie verlassen. In der Karlsaue steht ein riesiges Gebilde aus ineinandergreifenden Holzzahnrädern. Das sieht aus wie ein nettes Spielzeug, ein zweckfreies Perpetuum mobile. Doch was der Mexikaner Antonio Vega Macotela hier nachgebaut hat, heißt „Mühle des Blutes“ – eine Münzprägemaschine der spanischen Kolonialisten in Lateinamerika, die von Versklavten angetrieben werden musste. „Ignoranz ist eine Tugend. Ignoranz ist eine Tugend. Ignoranz ist eine Tugend ...“ Was auf Plätzen und in Ausstellungsräumen in Endlosschleife aus Lautsprechern diabolisch geflüstert wird, dürften viele Besucher als eine Art Prüfauftrag an sich selbst mitnehmen. Eine unsichtbar allgegenwärtige Arbeit des US-Künstlers Pope. L (*1955), die gleichwohl starke Bilder produziert: innere.
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