So viele stille Orte!
Eine schöne erzählerische Orientierung jenseits alltäglicher Geschäfte
Mit BB hat Peter Handke nicht viel am Hut. Dennoch überrascht ein Blick in Brechts Gedichtsammlung „Hauspostille“, genauer in „Orges Gesang“. Dort steht: „Orge sagte mir: Der liebste Ort/Auf Erden war ihm immer der Abort“. Und weiter: „Dies sei ein Ort, wo man zufrieden ist/Daß drüber Sterne sind und drunter Mist...“
Handke begleitet – zu Beginn seines „Versuchs über den Stillen Ort“ – den jugendlichen Helden eines Romans von A.J.Cronin auf den Abort. Dann heißt es: „Da dort blicken die Sterne herab.“ Die Parallele zwischen BB und PH soll hier nicht strapaziert werden, aber zumindest von einem schönen Zufall darf man ausgehen.
Wir machen jenen Ort, den Handke in einladender Gelassenheit umkreist, gern klein: zum „stillen Örtchen“. Ganz anders Handke. Indem er das Adjektiv „still“ groß schreibt, löst er den Ort aus allen alltäglichen, anrüchigen Assoziationen. Noch eines: Er setzt ihn in den Plural und entdeckt allenthalben „stille Orte“ – etwa, im Blick auf seine Kindheits- und Jugendjahre, auch den Beichtstuhl und das Krankenzimmer. Und was ist Handkes Schreibort in Chaville (bei Paris) und der angrenzende Wald zu Meudon anderes? (Dort gibt es keine Löwen, weswegen dem Einsiedler eines Tages ein Igel unter den Schreibtisch kriecht!)
Vom Plumpsklo bis in den Tempelbezirk
Handke, ein bekennender „Orts-Schriftsteller“, knüpft an seine Folge der Jahre 1989 bis 1991 an, die allesamt wohlgeratenen Versuche über die Jukebox, den geglückten Tag und die Müdigkeit.
Zunächst fällt auf, wie oft sich der ortskundige Erzähler ins Wort fällt: „Wenn ich mich nicht irre“; „jetzt aber fällt mir auf“; „oder täusche ich mich“; „anders als oben behauptet...“. Das hemmt den Fluss weniger, als dass Handke seine Erinnerung befragt. Er nimmt die Spur vergangener Erlebnisse im Schreiben auf (= „Wieder-Holung“), und er formt sie. Erinnerung ist immer auch Erfindung. Dazu Handke in seinen Notaten „Gestern unterwegs“: „Die Redensart: ,Das ist so lange her, daß es schon nicht mehr wahr ist’ – von einigem kann ich sagen, es sei schon so lange her, daß es inzwischen wahr geworden ist.“
Der Schriftsteller sucht die Stillen Orte seiner jungen Jahre auf, das Plumpsklo mit dem sauber geschnittenen Packen Zeitungen (als Klopapier); die Flucht aufs Klo im Internat, da der Neuankömmling am Esstisch das Wasser nicht mehr halten kann (Handke findet das schöne Wort „klammnaß“); die Nacht auf der Bahnhofstoilette; die Klo-Anlage in der Uni, wo der Icherzähler seinen Doppelgänger trifft; schließlich den Stillen Ort im japanischen Tempelbezirk.
So kommt der Leser um die Welt, fällt vom Dunkel ins Helle, vom Ernst in die Heiterkeit, von der Klaustrophobie in die Himmelsweite, geführt auf wunderbar leichte, ja lichte Art.
Autobiografische Schilderungen, Anschauungen, Selbsterforschungen, allesamt jenseits des „Üblichen und Gewohnten“; Orte der „Aus- und Alleinzeit“, erzählerisch illuminierte Schwellenorte (das sind eh Handkes Favoriten), an denen sich Innen und Außen, Ruhe und Rauschen, Ich und Wir tauschen – vor allem Stummheit und Wiederkehr der Sprache.
Handke, der Wesentliches aus seinem Leben und Schreiben in die Erzählung einfädelt (den Freund Hermann Lenz, Grundbücher wie „Hornissen“ und „Wiederholung“), knüpft eine Kette, die am Ende im Schriftsteller selbst kulminiert, im „Anschauen, Betrachten, und zu guter Letzt Sinnieren, Phantasieren und Imaginieren“. Das alles umschreibt den Energie- und Umkehr-Ort, die „Sprach- und Wörterquelle“. So schafft Handke am Ende einen doppelten stillen Ort – sein Buch und dessen Lektüre.
"Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort, Suhr- kamp, 109 Seiten, 17,95 Euro
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