Tagebuch des „Tschick"-Autor: Aus dem Leben eines Sterbenden
Der Autor von „Tschick“ hat sich im Spätsommer das Leben genommen. Jetzt ist sein Tagebuch erschienen. Es gewährt bewegende Einblicke.
In Wolfgang Herrndorfs kurzem Leben als berühmter Autors ist vieles nicht so gewesen, wie es hätte sein sollen. Zuallererst natürlich, dass dieses Leben als ein mit wichtigen Literaturpreisen ausgezeichneter Bestsellerautor viel zu kurz war. Es begann erst 2010, nach der Veröffentlichung des Millionensellers „Tschick“. Dieser sprühende Jugendroman um die beiden Ausreißer Tschick und Maik Klingenberg begeisterte offenbar noch die lesefaulsten Schüler – und erfuhr auch in seiner Bühnenfassung in beinahe jedem deutschen Stadttheater entsprechende Bestätigung.
24.03.2010, 16:39 Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist voll mit Gedanken über den Tod. Der jugendliche Erzähler denkt andauernd darüber nach, ob es einen Unterschied macht, „ob man in 60 Jahren stirbt oder in 60 Sekunden” usw. Wenn ich das drinlasse, denken alle, ich hätte es nachher reingeschrieben. Aber soll ich es deshalb streichen?
Drei Jahre nach Erscheinen des Buches, das ihm neben der verdienten Ehre auch endlich materiellen Erfolg eintrug, ist Herrndorf tot. Nach drei Gehirnoperationen, zwei Bestrahlungen und drei Chemos hat er sich am Montag, 26. August 2013, gegen 23.15 Uhr am Ufer des Berliner Hohenzollernkanals mit einem Revolver in den Kopf geschossen. Wolfgang Herrndorf war 48. Die Aussicht, dem Tumor in seinem Kopf, der jeden Tag Teile seiner sprachlichen, motorischen und kognitiven Fähigkeiten fraß, die Herrschaft über seine Existenz zu überlassen, am Ende seines Weges von Maschinen am Leben erhalten zu werden, war ihm unerträglich. Den Freitod hatte er zuvor mehrfach in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ im Internet angekündigt. Nun ist dieses öffentliche Tagebuch unter dem gleichen Titel als Buch erschienen. Die abgesetzten Textpassagen hier sind Auszüge daraus.
10.08.2010, 16:05 Die mittlerweile gelöste Frage der Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Globuli ja, Bazooka nein. Schwachköpfe.
Auch in der so eng mit der Person verknüpften literarischen Spezialform des Tagebuchs darf dieses Werk eine Sonderstellung beanspruchen. Nicht wegen Herrndorfs sehr relativer Berühmtheit – den meisten dürfte er wohl trotz allem als „der Autor von Tschick“ ein Begriff sein. Auch nicht, weil da ein Insider, ohne Rücksicht nehmen zu müssen, aus dem überdrehten Berliner Kulturbetrieb plauderte. Außer persönlichen Leseerfahrungen und sparsamen Details zu bekannten oder befreundeten Autoren ist davon in dem Text nichts zu finden. Nein – Herrndorfs Aufzeichnungen „ziehen einem den Stecker“, wie er schreibt, weil hier ein ganz normaler Mensch spricht, der von einer plötzlichen schweren Erkrankung aus der Bahn geworfen wird. Weil man in jedem Moment weiß, der Autor wird das Ende des Buches nicht überleben. Weil man, wenn er von so banalen Dingen wie dem Ansehen eines Fußball-EM-Spiels schreibt, automatisch abgleicht, wo und wie man selbst diese Momente verbracht hat. Weil einen diese unaufgeregte Direktheit geradezu zwingt, Bezüge zum eigenen Leben herzustellen und sich zu fragen: Wie ginge es mir in so einer Situation?
15.07.2013, 14:26 Mit Rückenschmerzen zum Westhafen, S-Bahn zu Dr. Vier. Befund schlecht wie erwartet. Avastin ohne Wirkung, Glioblastom beiderseits progressiv. Ende der Chemo. OP sinnlos. Ich weiß, was das bedeutet. Wie lange habe ich noch, zwei oder drei Wochen? Noch weniger, ein paar Tage?
Nun glaubt man diesen Menschen zu kennen, von dem sonst so wenig bekannt war. Aber wie hätte Herrndorf außer durch seine Bücher Profil gewinnen können? Dieser Mann hatte keine Zeit für Interviews, Feuilletons oder sonstige öffentlichkeitswirksame Einlassungen. Er war in einem Wettlauf mit dem Tod, presste Seite für Seite seines Lebenswerks aus sich heraus. Mit einer „Produktivität, die man vorher an ihm nicht gekannt hatte“, wie Weggefährten später berichteten, vollendete er noch einen zweiten, ebenfalls Jahre früher begonnen Roman, den 2012 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Agententhriller „Sand“. Und nebenbei immer das Tagebuch. Eigentlich sollte es ihm nur wertvolle Zeit sparen, die ihn das Beantworten von Mails und Anrufen kostete. Doch darüber wuchs das Projekt schnell hinaus, beanspruchte bald literarische Eigenständigkeit. Was bleibt nach der Lektüre, ist das Bild eines Mannes, der nicht mit seinem Schicksal haderte; eines Aufsteigers, der seinen Freunden ein literarisches Denkmal setzte; eines lakonischen, humorvollen Beobachters; und eines Menschen, der keine Angst vor dem Sterben hatte.
19.07.2013, 8:12 Am liebsten das Grab in dem kleinen Friedhof im Grunewald, wo auch Nico liegt. Und, wenn es nicht vermessen ist, vielleicht ein ganz kleines aus zwei T-Schienen stümperhaft zusammengeschweißtes Metallkreuz mit Blick aufs Wasser, dort, wo ich starb.
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Rowohlt, 448 S., 19,95 Euro.
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