"Weißer Rabe" Max Mannheimer wird 90
München (dpa) - Das Erinnern ist seine wichtigste Aufgabe geworden. Max Mannheimer, Auschwitz-Überlebender und Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, berichtet unermüdlich in Schulen, Universitäten und bei vielen Anlässen über die Gräuel, die er unter den Nazis durchlebt hat.
An diesem Samstag (6. Februar) wird er 90 Jahre alt. "Der ganze Zweck meiner Arbeit ist es, zu den nachfolgenden Generationen zu sprechen und sie vor den Gefahren einer Diktatur zu warnen", sagt Mannheimer, der sich selbst als "weißen Raben" bezeichnet - so auch der Titel eines Film-Porträts, das im Vorfeld des Geburtstags im vergangenen Jahr Premiere feierte. Stets hat Mannheimer sich als Zeugen der Zeit gesehen - nie als Ankläger. "Es leben viele - aber wenige können darüber reden ohne Hass", sagt er in dem Film.
Die jüdische Familie Mannheimer aus dem mährischen Neutitschein im heutigen Tschechien geriet trotz Flucht in die Hände der Hitler- Schergen. Sie wurde ins Konzentrationslager Theresienstadt und von dort nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Von acht Mitgliedern der Familie starben sechs: Ein Bruder wurde schon 1942 verhaftet, auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau sah Max Mannheimer 1943 zum letzten Mal seine Eltern, seine Schwester und seine Frau, die er wenige Monate zuvor geheiratet hatte. Sie wurden vergast. Mit zwei Brüdern wurde er zur Arbeit ausgewählt - einer von ihnen überlebte Auschwitz ebenfalls nicht: Ernst Mannheimer erkrankte an Durchfall und geriet in die "Selektion": Wer krank war, wurde ermordet.
Max Mannheimer und sein inzwischen gestorbener jüngerer Bruder Edgar überlebten als einzige den Holocaust. "Ich habe gekämpft wie ein Löwe, um ihn am Leben zu halten", sagte Edgar Mannheimer in einem Interview über die Zeit im KZ. Als der damals 23-jährige Max angesichts des Schreckens von Selbstmord spricht, sagt der 17-jährige Edgar: "Willst Du mich allein lassen?" Da ist für Max klar: Er will leben. Die Brüder kommen über Warschau in das KZ Dachau, werden 1945 in das Außenkommando Mühldorf verlegt und auf einem Evakuierungstransport am 30. April 1945 von den Amerikanern befreit. "Als ich bei Tutzing befreit wurde, war ich eine halbe Leiche. Damals habe ich gesagt: Wenn ich 40 Jahre alt werde, bin ich zufrieden - und jetzt bin ich 90!", sagt Mannheimer heute.
Nachdem Mannheimer damals von Schwäche und Typhus genesen war, verließ er Deutschland - mit dem festen Vorsatz, nie wiederzukehren. Doch er verliebt sich ausgerechnet in eine Deutsche: Elfriede Eiselt, Tochter einer sozialdemokratischen Familie. "Sie war eine Heldin", sagt er über sie - denn die Familie versteckte Juden, riskierte das eigene Leben. "Sie versicherte mir, dass Deutschland eine ausgezeichnete Chance hat, eine Demokratie zu werden. Und wenn man verliebt ist, glaubt man ja vieles. So war ich am 27. November 1946 wieder in dem Land, dessen Boden ich nie wieder betreten wollte." Als seine Frau Mitte der 1960er Jahre an Krebs stirbt und er selbst glaubt, schwer krank zu sein, schreibt er seine Erinnerungen auf - für seine Tochter, mit der er nie über das Erlebte sprach. "Das ist nicht üblich - um die Kinder nicht zu belasten."
Bis heute trägt der Ex-Häftling, inzwischen mit einer Amerikanerin verheiratet, am linken Unterarm die tätowierte Nummer 99728. "Opa, warum hast Du so einen Nummer an der Hand", fragten seine Enkelinnen. Es sei eine Telefonnummer, antwortete Mannheimer - inzwischen sind die Enkel Teenager und wissen, was die Nummer bedeutet. Die jungen Menschen hätten ein überraschendes Interesse an der Nazi-Zeit, berichtet Mannheimer von seinen Vorträgen in Schulen. "Die Urenkel möchten wissen, weshalb ihre Urgroßeltern so lange einem Massenmörder die Treue halten konnten."
Infolge der KZ-Erlebnisse litt Mannheimer an Alpträumen und Depressionen. In den USA erlitt er 1981 einen Nervenzusammenbruch, als er an einer Mauer ein Hakenkreuz sah. In der Klinik, in der er dann behandelt werden musste, holte ihn die Erinnerung vollends ein - er prüfte die Duschen: "Ich habe ganz vorsichtig den Wasserhahn aufgemacht." Aber: "Das war eine Umkehr - ich habe dann mehr nach vorne geschaut." Mitte der 1980er Jahre wurden seine Erinnerungen in den Dachauer Heften veröffentlicht, er begann mit Führungen durch das ehemalige KZ. Teils schaffte er das nur mit Medikamenten.
Beim Malen arbeitete er schon seit den 1950er Jahren die Schrecken auf - als Maler nennt er sich ben jakov, Sohn des Jakob, der Name seines Vaters. Geholfen habe "das Malen, das Erzählen - und die Tabletten", sagt er heute, aber: "Vergessen kann man es nie - das ist unmöglich."
Die Diskussion ist geschlossen.