Zwei Schritte vor und einer zurück: Eine kurze Geschichte der Beschleunigung
Vielen erscheint die Welt heute so schnell, als hätte eine große Macht auf Vorspulen gedrückt. Bedeutungen fließen ineinander, Raum und Zeit verlieren Ihren Bezugspunkt. Doch es gibt Gegenbewegungen.
Die Vorfahren des Menschen sitzen still in schweigender, stillstehender Landschaft zu Beginn von Stanley Kubricks Science-Fiction- Meisterwerk „Odyssee im Weltraum“. Die Szene verharrt und fordert vom Zuschauer Geduld, bis plötzlich ein schwarzer Monolith auftaucht, der Bewegung bringt. Der Monolith wurde vielfach interpretiert – aber vielleicht steht er für nichts anderes als Beschleunigung. Denn auf das Erscheinen dieses Steins explodiert die Szenerie: Die Frühmenschen entdecken den Knochen als Werkzeug und Waffe, unterwerfen einen anderen Stamm und dann, im wohl krassesten Schnitt der Filmgeschichte, schleudert der Anführer den siegbringenden Knochen in die Luft, der sich dort dreht – und zur Raumstation wird. Millionen Jahre Evolution und technischer Fortschritt in einer Sekunde. In diesem Bild zeigt sich das zwiespältige Gesicht der Moderne, der steten Beschleunigung, der Zeit. Stets wollte der Mensch sie bezwingen und ihr die letzten Sekunden abringen. Doch heute stellen sich Millionen die Frage: Hat der Mensch blindlings diesen Kampf verloren und ist nicht mehr Geselle der Zeit, geschweige denn ihr Herr – sondern ihr Knecht?
Stechuhr und Stechschritt: Die Armbanduhr bindet ihren Träger
Das Aufkommen der Uhr veränderte das menschliche Dasein so radikal wie keine Erfindung zuvor. Zeit war nicht mehr einfach da und kehrte zyklisch wieder in der Beobachtung der auf- und untergehenden Sonne oder im Wechsel von Sommer und Winter, Hitze und Schnee. Zeit wurde jetzt gemacht und geplant. Wer eine Uhr besaß, konnte eine Stunde länger im Bett liegen. Besaßen zwei Menschen eine Uhr, konnten abstrakt, präzise Termine vereinbart werden – scheinbar sinnlose Wartezeiten entfielen, wie sie heute noch in technisch abgehängten Regionen der Erde zu beobachten sind. Doch mit der Uhr erging es dem Menschen wie mit so vielen von ihm gemachten Erfindungen: Auf die Phase der Befreiung folgte die Zeit der Unterwerfung. Die Uhr ermöglichte bald nicht mehr einen souveränen Umgang mit der Zeit, sondern kommandierte den Menschen mittels Stechuhr im Takt. Im Ersten Weltkrieg ermöglichte der massenhafte Einsatz der Armbanduhren für Soldaten exakt abgestimmte Angriffspläne und -zeiten. Einhundert Jahre später erleben wir Menschen, die „Coffee to go“ aus Pappbechern trinken, mit dem Smartphone am Ohr nach New York telefonieren und die Kinder zwischen zwei Meetings abholen. Der Power Nap hat den Mittagsschlaf abgelöst, Produktion läuft just in time und Live-Ticker informieren uns in Echtzeit selbst über die entferntesten Ereignisse. Statt zwei Briefe zu verfassen, schreiben wir zehn E-Mails, werden durch SMS, Skype, WhatsApp und Co. aus unserer Arbeit gerissen. Wir erleben die Beschleunigung von allem, die Vergleichzeitigung von allem.
Beschleunigung der Zeit bis zur Gleichzeitigkeit
Die globalisierte Welt lässt sich durch den Begriff der Beschleunigung erklären, da er Raum und Zeit zusammenführt. Je höher die Geschwindigkeit von etwas ist, desto schneller kann Strecke, also Raum, überwunden werden. Somit schmelzen nicht nur Distanzen, sondern auch die Zeit, die immer kürzer wird, bis schließlich alles gleichzeitig zu geschehen scheint. Mit der Geschwindigkeit verschwinden der Raum somit und der Gegenstand der Erfahrung des Ortes. Extreme Geschwindigkeiten schieben Erklärungsmuster ineinander, bis diese sich schließlich auflösen. Durch die nicht mehr wahrnehmbare Geschwindigkeit wird deren Gegenteil - ein Stillstand - erreicht. Ein Stillstand aber, der für den je einzelnen Menschen zu rasen scheint. Im Film „Die Verurteilten“ wird der Sträfling Brooks nach 50 Jahren Haft entlassen. Er trifft auf eine Welt, die wir heute romantisch als „gute alte Zeit“ oder „langsame Epoche“ beurteilen würden. Der Ex-Sträfling aber taumelt durch eine Stadt, in der plötzlich viele Autos fahren und sagt: „Ich kann nicht fassen wie schnell sich hier draußen alles bewegt. Als Kind habe ich mal ein Automobil gesehen, aber jetzt gibt es die überall. Die Welt ist verdammt in Eile geraten...“ Ähnlich geht es wohl jeder Generation und mit jedem Jahr scheint an der Schraube der Geschwindigkeit und Beschleunigung weitergedreht zu werden.
Symbol der Entschleunigung: Die Einzeigeruhr
Doch dort, wo der Mensch ein zu viel empfindet, sehnt er sich nach einem weniger. Wo Beschleunigung herrscht, wächst die Sehnsucht nach Entschleunigung. Wo die Lösung immer mehr hieß, heißt die Antwort vielleicht ein bisschen weniger. Die Facetten dieser Bewegung sind vielfältig. Von Slow Food, was meist nicht mehr bedeutet, als selbst zu kochen, über bewusste Zurücknahme im Beruf und den Verzicht auf Chancenerhalt bis hin zur Uhr selbst, die den Prozess der Beschleunigung einst mit eingeleitet hat. Charakteristisch hierfür steht die Wiederentdeckung der Einzeigeruhr um das Jahr 1990 durch den Designer Klaus Botta. Ihm fiel 1986 auf, dass Uhren immer komplizierter wurden, immer genauer die Zeit anzeigten. So extrem, dass nicht einmal mehr Minuten und Sekunden, sondern Millisekunden über die Qualität einer Uhr zu entscheiden schienen. Die Antwort des Designers war die erste Einzeigeruhr der Neuzeit, die UNO. Sie verzichtet auf Minuten- und Sekundenzeiger und soll, so die Botschaft von Botta, ihrem Träger einen wieder souveränen Umgang mit der Zeit ermöglichen. Denn, so fragt er, müssen wir wirklich wissen, ob es 4.13 Uhr ist? Oder genügt uns ein entspannter Blick auf die Armbanduhr, der uns verrät, dass es etwa viertel nach vier ist?
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