Der zehnjährige Krieg
Der Krieg in Afghanistan hat kein Gesicht, seine Opfer selten Namen. Vielleicht liegt es daran, dass der zehnte Jahrestag fast gleichgültig und schulterzuckend registriert wird.
Wer zum ersten Mal im Leben vom Dreißigjährigen Krieg hört, staunt sehr: Was für eine ungeheure Zeitspanne! Und noch die zehn Jahre des Vietnam-Krieges kommen Nachgeborenen schier unglaublich vor. Man hat das alles für eine nur noch historische Wirklichkeit gehalten. Jetzt selber Zeitzeuge eines zehnjährigen Krieges zu sein, wirkt verstörend: Ist es wirklich wahr, dass in Afghanistan seit zehn Jahren gekämpft und getötet wird, dass über alle Erfolge und Rückschläge, über Niederlagen, Truppenverstärkungen und Strategiewechsel zehn Jahre vergangen sind? Wer kennt die Zahl der Toten, wer kennt die Schicksale, die sich hinter dieser Zwischenbilanz verbergen?
Am Beginn des elften Kriegsjahres erscheint dieser Krieg aussichtsloser denn je. Mag die Gegenfrage, was denn aus dem Land werden soll, wenn sich die Amerikaner und ihre Verbündeten zurückziehen, auch noch so bedrückend sein, diese Frage allein kann nicht immer aufs Neue die Fortsetzung eines Krieges rechtfertigen, der längst verloren ist.
Der Krieg begann kurz nach dem 11. September 2001 mit zwei Kriegszielen: Erstens sollte das Taliban-Regime gestürzt werden, um auch El Kaida seiner wichtigsten Operationsbasis zu berauben. Zweitens sollte das Land demokratische Strukturen, eine freiheitliche Ordnung und zuverlässige Staats- und Sicherheitsorgane bekommen. Das erste dieser Kriegsziele war richtig und wurde schnell erreicht. Das zweite war von Beginn an falsch. Es gibt auch längst niemanden mehr, der glaubt, dass die gewaltsame Demokratisierung des Landes gelingen kann. Die Stammesvölker Afghanistans erleben die fremden Soldaten nicht in erster Linie als Befreier und Beschützer, sondern als Besatzer und Bevormunder. Und sie haben viel Erfahrung in der Zermürbung selbst mächtigster Armeen. Wer war je so töricht zu glauben, dass man nach ein oder zwei Jahren freundschaftlich verabschiedet wird und ein stabiles Land hinterlässt?
Nicht nur den Entscheidungsträgern in den USA und in der Nato ist die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens erst spät klar geworden. Die Wahrheit ist: Auch die meisten Europäer waren anfangs mit dem Krieg gegen die Taliban sehr einverstanden. Anders als beim Krieg gegen den Irak, herrschte über die Legitimität international Konsens. Die Empörung über die unmenschliche Herrschaft der Taliban verstellte den Blick für die militärischen und politischen Herausforderungen, auf die man sich einließ.
Dazu beigetragen hat sicher, dass der Krieg nicht im eigenen Land, sondern in der Ferne stattfindet und – anders als der Vietnam-Krieg – auch kaum je so drastisch dokumentiert wurde. Der Krieg in Afghanistan – das ist meistens nur die kurze Meldung in den Abendnachrichten, der Bericht über ein paar Gefallene oder einen neuen Selbstmordanschlag, ein Hinweis auf einen erfolgreichen Drohneneinsatz.
Dieser Krieg hat kein Gesicht, und seine Opfer haben selten Namen. Vielleicht liegt es daran, dass der zehnte Jahrestag nicht von Friedensdemonstrationen begleitet ist, sondern fast gleichgültig und schulterzuckend registriert wird.
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