Rosinenpickerei statt Sozialdenken
Wer die gesundheitliche Vorsorge als Element des solidarischen Ausgleichs und Stabilisierung der Gesellschaft bewahren will, muss sie vor Geschäftemacherei schützen.
Menschen für den Krankheitsfall abzusichern ist kein Geschäft wie jedes andere. Es ist seit Bismarcks Zeiten eine vom Staat verordnete und auch regulierte Aufgabe. Was im 19. Jahrhundert als Reaktion auf soziale Veränderungen infolge der Industrialisierung, auf wachsende Unruhe in der damaligen Arbeiterschaft und auf die erstarkende Sozialdemokratie begann, ist heute die niemals zu versiegen scheinende Haupteinkommensquelle der Wachstumsbranche Gesundheitsmarkt.
Dabei ruht die gesetzliche Krankenversicherung auf drei unverrückbaren Säulen der Solidarität, die so auch im Sozialgesetzbuch vorgeschrieben sind: Die finanziell Stärkeren zahlen für die Schwächeren mit, die Gesunden für die Kranken, die gesundheitlich stabileren Jungen für die gefährdetere ältere Generation. Diese Prinzipien müssen die Versicherungsunternehmen hochhalten. Dennoch sind sie zugleich den Herausforderungen des privatwirtschaftlich ausgerichteten Wettbewerbs ausgesetzt.
Wenn es sich, wie behördlich festgestellt, einige Krankenkassen deshalb heute erlauben, auf Kosten der Konkurrenz kostenintensive Versicherte, also die schwer chronisch Kranken und die Älteren, mit ausgefeilten Methoden aus ihrer Gemeinschaft zu drängen, dann haben sie die Gesetze des Marktes sehr wohl verstanden: Sie reduzieren ihre Ausgaben, verbessern ihr Ergebnis – nicht zuletzt, indem sie zusätzlich gezielt junge, alleinstehende und gut verdienende Mitglieder anwerben – und steigern die Wettbewerbsfähigkeit. Aber: Sie bewegen sich außerhalb von Gesetz und Anstand und verlieren somit ihre Existenzberechtigung. Denn sie sind nach wie vor ein Bestandteil des sozialen Ausgleichs innerhalb der Gesellschaft und unterliegen damit eigenen Gesetzmäßigkeiten.
Im Sinne des Wettbewerbs, der ja als Leistungsansporn dienen soll, leisten wir uns immer noch deutlich mehr als 100 verschiedene gesetzliche Krankenkassen mitsamt ihren bürokratischen Apparaten. Sie verwalten stellvertretend für die Versicherten und die mit ins System einzahlenden Arbeitgeber deren Geld. Sie müssen natürlich sparsam wirtschaften, was aber gern als Vorwand genommen wird, um Patienten (Versicherte) und Leistungserbringer (Ärzte, Apotheker, Therapeuten oder Krankenhäuser) bei der Auswahl der Behandlung ans Gängelband zu nehmen.
Um die historisch bedingten strukturellen Unterschiede der Kassen zu nivellieren – hier weitgehend homogene Betriebs-, da die großen Orts- oder Ersatzkrankenkassen mit vielen älteren Versicherten –, leistet sich der Sozialstaat zusätzlich das (Wort-)Monstrum Risikostrukturausgleich. Kein Wunder, wenn immer wieder der Ruf nach einer Einheitskasse laut wird.
Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr ist kein ausgesprochener Freund des aktuell gültigen gesetzlichen Systems. Der Politiker der marktgläubigen FDP hat gerade erst eine Öffnung der konkurrierenden Privatkassen für alle vorgeschlagen, die sich den teureren Spaß leisten wollen, aber es bisher nicht dürfen. Damit spricht er aber genau jene zahlungskräftige Versichertenklientel an, die jeder Kasse die liebste ist. Der Minister verschärft damit genau jene „Rosinenpickerei“, die er den „schwarzen Schafen“ unter den gesetzlichen Kassen gerade erst zu Recht vorgeworfen hat.
Wer die gesundheitliche Vorsorge und Versorgung der Bevölkerung als Element des solidarischen Ausgleichs und Stabilisierung der Gesellschaft bewahren will, muss sie vor selektiv denkender Geschäftemacherei schützen. Sonst gibt es bald nur jene, die sich Gesundheit noch finanziell leisten können, und die große Menge, die unversorgt durchs Raster fällt.
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