Schröders Kraftakt
Schröders Sozialreformen, bekannt geworden unter dem Slogan Agenda 2010, waren für Deutschland ein Segen – und für die SPD eine Zumutung.
In der an Floskeln reichen Sprache der Politik findet sich eine besonders häufig – nämlich die, dass es zuerst immer auf das Land ankomme und dann erst auf die Partei. Niemand allerdings hat dieses Prinzip in der jüngeren deutschen Geschichte so konsequent durchgehalten wie Gerhard Schröder. Seine Sozialreformen, bekannt geworden unter dem Slogan Agenda 2010, waren für Deutschland ein Segen – und für die SPD eine Zumutung, an der sie auch zehn Jahre danach noch zu knabbern hat.
„Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen.“ Als Schröder am 14. März 2003 vor den Bundestag trat, um radikal mit dem sozialdemokratischen Ideal des fürsorgenden Sozialstaates zu brechen, war die Bundesrepublik mit mehr als vier Millionen Arbeitslosen und Wachstumsraten von weniger als einem Prozent der kranke Mann Europas. Heute ist sie eine der potentesten Volkswirtschaften des Kontinents und besser durch die große Krise gekommen als die meisten anderen Euro-Länder. Für die teuren Kurzarbeiterprogramme zum Beispiel, mit denen die Unternehmen ihre Belegschaften damals in den Betrieben halten konnten, hat erst Schröders Agenda-Politik mit ihren Nullrunden bei den Renten, dem Zusammenlegen von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und dem auf ein Jahr beschränkten Arbeitslosengeld I den Spielraum geschaffen.
Preis war hoch
Der Preis, den der Kanzler und seine Partei für diesen historischen Kraftakt bezahlt haben, war allerdings hoch. Die handstreichartige Unnachgiebigkeit, mit der Schröder und sein Adjutant Franz Müntefering der SPD ihre neue Sozialpolitik aufzwangen, trieb viele Parteilinke und noch mehr Gewerkschafter in die Arme von Oskar Lafontaine und weiter zur neuen Linkspartei. Dass Schröders rot-grüne Koalition zwei Jahre später nach einer Serie verlorener Landtagswahlen am Ende war und die Sozialdemokraten in den Umfragen noch immer unter der Marke von 30 Prozent liegen, sind auch Kollateralschäden der Agenda 2010. Nur weil weite Teile der SPD nicht wahrhaben wollten, dass ein aufgeblähter Sozialstaat keine Errungenschaft für die Ewigkeit ist, sondern ein teures Standortrisiko, konnte die Linke sich als fünfte Kraft in der Bundespolitik etablieren. Nicht Gregor Gysis Eloquenz oder Oskar Lafontaines Ehrgeiz hat sie stark gemacht, sondern die larmoyante Unentschiedenheit der SPD.
Umso erstaunlicher ist es, welche Lehren Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück aus den Erfahrungen der vergangenen zehn Jahre ziehen. Anstatt sich an Schröders beherztem Pragmatismus zu orientieren, rückt die SPD von der Rente mit 67 ab, sie untergräbt mit ihrem gesetzlichen Mindestlohn die Tarifautonomie und verwässert die Idee der Agenda vom Fördern und Fordern immer weiter. Natürlich hatten auch Schröders Reformen ihre Mängel – vom dramatischen Anstieg der Leih- und Zeitarbeit über die Bürokratie bei der Riester-Rente bis zur fehlenden Steuerungswirkung bei der Praxisgebühr. Im Kern allerdings waren sie Ausdruck einer neuen ökonomischen Vernunft, für die in der SPD lange Zeit auch der Name Steinbrück stand.
SPD wirft Umverteilungsmaschine an
In dessen Wahlprogramm findet sich vom Geist der Agenda 2010 nicht mehr viel. Nach vier Jahren in der Opposition haben die Sozialdemokraten, wieder einmal, die große Umverteilungsmaschine angeworfen. Sie suggerieren eine Sicherheit, die es in der globalisierten Wirtschaft nicht mehr gibt und in einem schleichend vergreisenden Land schon gar nicht. Schröder hatte vor zehn Jahren den Mut, sich dessen Problemen zu stellen. Seine Nachfolger müssen erst regieren, um ihn zu spüren – den Realitätsschock.
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