Verlorenes Vertrauen
Die Transplantationsmedizin genießt Ansehen. Sie verspielt aber ihren Ruf, wenn Ärzte aus egoistischen Motiven die Verteilung von Organen zugunsten ihrer Patienten manipulieren.
Das Gebaren der unter Manipulationsverdacht geratenen Transplantationszentren, die sich auf Lebern spezialisiert haben, ist nun weitgehend durchleuchtet. Alles halb so schlimm, weil nur in vier von 24 Kliniken nennenswerte Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden? Keinesfalls. Es reicht ein Fall, um mühsam erarbeitetes Vertrauen für lange Zeit zu verspielen. Außerdem wurden nur die Leberzentren kontrolliert. Aber wie schaut es dort aus, wo Herzen oder Nieren verpflanzt werden? Ob auch dort Daten manipuliert wurden, um schneller ein Spenderorgan für eigene Patienten zu bekommen, wird die Expertenkommission erst noch detektivisch prüfen müssen. Das Ergebnis ist absolut offen.
Jedem Arzt sei unterstellt, dass er nur das Beste für „seine“ Patienten will. Von ihm wird der größtmögliche Einsatz zur Rettung eines Lebens erwartet. Aber er ist auch Teil eines von wirtschaftlichen Zwängen und Interessen gesteuerten Gesundheitssystems. Da ergeben sich automatisch noch andere, nicht medizinische Motive und Anreize, um der Konkurrenz das rare Gut Spenderorgan vor der Nase wegzuschnappen. Weil es in Deutschland zu wenige potenzielle Spender gibt, ist die nach Dringlichkeit sortierte Warteliste der Schwerkranken, die auf ein geeignetes Organ warten, sehr lang.
Die Vergabe gespendeter Lebern, Herzen, Nieren oder anderer Organe ist also kein Thema, bei dem allein Appelle ans Gute im Menschen reichen, um zuerst jenen Menschen zu helfen, die am dringendsten operiert werden müssen. Aber was heißt „am dringendsten“? Wer kann das definieren und festlegen, wer stellt es im Einzelfall fest, nach welchen objektiven Kriterien? Reicht ein wasserdichtes Gesetz, in dem jedes Detail festgelegt ist? Oder braucht es unabhängige Kommissionen, denen die Entscheidung in jedem Einzelfall übertragen wird? Wem kann der Patient überhaupt vertrauen?
Es sind Fragen, die jedes Mal in sehr kurzer Zeit beantwortet werden müssen, weil sie über Leben und Tod entscheiden können. Fragen, die auch jeder stellt, der sich im Falle seines eigenen Todes selbst als Organspender zur Verfügung stellen will. Er verlangt ebenso verlässliche Antworten sowie ein transparentes und damit weniger manipulationsanfälliges System.
Für das in den vergangenen zwölf Monaten schnell verloren gegangene Vertrauen sind letztlich ein paar Einzeltäter verantwortlich. Es zurückzugewinnen, ist ein äußerst langwieriger Prozess. Der Göttinger Skandal, der den Verdacht unzulässiger Manipulationen ebenso in Regensburg und München sowie neuerdings auch in Münster zutage gefördert hat, fiel in eine absolut ungünstige Phase. Gerade erst war es gelungen, über die Krankenkassen jeden einzeln Versicherten mit dem Thema Transplantationen direkt zu konfrontieren. Es bestand die Hoffnung, dass sich mehr Menschen als bisher für eine mögliche Organspende entscheiden. Stattdessen landeten nach Aufdeckung des Skandals die zugesandten Spenderausweis-Vordrucke massenhaft im Altpapier und nicht – mit den wichtigsten Daten versehen – im Geldbeutel, der Brief- oder Handtasche.
Die moderne Transplantationsmedizin genießt zu Recht höchstes Ansehen, wenn sie Menschenleben rettet oder beispielsweise Dialysepatienten mithilfe einer neuen Niere von der maschinellen Blutreinigung erlöst. Sie verspielt aber ihren Ruf, wenn Ärzte aus egoistischen Motiven die ohnehin schwierige Verteilung von Organen zugunsten ihrer Patienten manipulieren. Und ihr wird der Boden unter den Füßen weggezogen, wenn es wegen einer Vertrauenskrise keine Organspender mehr gibt.
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