Lieber Pershing 2 als Peter Maffay
Es ist bitterkalt auf der schwäbischen Alb. Der Himmel? Leuchtet wunderbar blau. Aber der Wind bohrt tausende kleinen Nadeln in die Haut. Alle, die hier oben nördlich von Ulm in der ausgeräumten, zugigen Alblandschaft stehen, wärmen sich allerdings an einem Gefühl, das an diesem 22. Oktober 1983 hunderttausende von Menschen spüren: Sie werden Teil von etwas Großem sein.
Das heißt, er war eigentlich deutlich länger, denn die Menschen standen teilweise in Zweier- und Dreierreihen, als sie sich an den Händen nahmen. Sie schlängelten sich auf der Bundesstraße 10, über Wiesen und Felder und warfen regelrechte "Wellen". Wie viele damals diese Kette bildeten, wird niemand jemals beantworten können. Die Schätzungen reichten von 200 000 bis 400 000 Teilnehmern.In diesem Fall kommt es tatsächlich nicht darauf an, ob es ein paar zehntausend mehr oder weniger waren, denn eine ähnlich mächtige und wohlorganisierte Protestaktion hat es wohl noch nie gegeben. Eine logistische Meisterleistung.Sie bildete den spektakulären Höhepunkt aller Demonstrationen gegen die sogenannte Nachrüstung, sie gab der bundesdeutschen
für einen kurzen Moment das Gefühl, etwas bewegen zu können. Sie bewegte letztendlich nur Menschen, nicht aber die Politik. Die amerikanischen Pershing-2-Raketen mit ihren Nuklear-Gefechtsköpfen sowie die Marschflugkörpern vom Typ Cruise Missile wurden nur wenige Wochen später zu ihren Standorten gekarrt. Die
erlahmten im Lauf der folgenden Monate und Jahre."Danach, als die Eventaktivisten und Mitläufer wieder weg waren, begann wieder das Schwarzbrot der Friedenswochen mit Dritte-Welt-Arbeit, Veranstaltungen in der
, den Infoständen in der Fußgängerzone und den Umtauschaktionen von Kriegsspielzeug", erinnert sich
, Grünen-Gemeinderat in
und einer der Mitorganisatoren der Menschenkette. "Der große Schwung war vorbei."Die Idee zu dieser Friedensaktion entsprang eigentlich einem Streit. Eine bundesweite Aktionskonferenz hatte im April 1993 der Friedensbewegung in Süddeutschland die Aufgabe gestellt, für eine Aktionswoche im Herbst eine von vier "Volksversammlungen für den Frieden" zu organisieren. Die ausgesprochen bunt zusammengewürfelte Gruppe aus Parteivertretern, Gewerkschaften, Kirchen und Friedensorganisationen unterschiedlichster Couleur konnte sich zunächst nicht einigen, ob sie eine traditionelle Großdemo in Stuttgart oder eine gewaltfreie Blockadeaktion in Neu-Ulm, wo ein Teil der Raketen stationiert werden sollte, auf die Beine stellen wollte. Bei einem Treffen im völlig überfüllten Neu-Ulmer Edwin-Scharff-Haus brachte der Karlsruher Sonderschullehrer Ulli Thiel, von dem auch der Slogan "Frieden schaffen ohne Waffen" stammt, die Idee einer Menschenkette auf den Tisch.Das Vorhaben wurde zwar gebilligt, doch viele wollten nicht so recht daran glauben, denn die Hürden schienen gewaltig. Allerdings zeigten die Aktivisten, dass sie bei aller Friedensliebe militärisch präzise, also "generalstabsmäßig" planen konnten.In Ulm wurde ein Büro angemietet und mit bezahlten Mitarbeitern besetzt, die den ganzen Tag nichts anderes taten, als zu otrganisieren. Sie teilten die 108 Kilometer lange Strecke in Abschnitte ein, die an Organisationen "vergeben" wurden. Die sollten dafür sorgen, dass genügend Leute zur Verfügung standen, um die Kette zu schließen. Die Vorbereitungen wurde immer leichter, je näher der Termin rückte, denn die Aktion entwickelte sich zum Selbstläufer. "Irgendwann wusstest du, dass es funktioniert", sagt Kienle, "Es kamen immer mehr Anmeldungen von Schulklassen, Kirchengemeinden, Vereinen und Organisationen. Das wurde wohl getragen von der Stimmung, dass man da einfach dazugehören müsse. Das durfte man nicht verpassen, das war wie ein Fieber."Am Tag X schließlich rollten 35 überfüllte Sonderzüge und 900 Omnibusse an, die Demonstranten quollen geradezu auf die gesperrte B10 zwischen Ulm und Stuttgart. Die vorsichtshalber verteilten bunten "Verlängerungsbändchen" zum Überbrücken möglicher Lücken dienten nur noch als Armband und Kopfschmuck, denn kurz vor 13 Uhr machte die Nachricht die Runde: "Die Kette steht!". An manchen Abschnitten wurde gesungen und die Worte "We shall overcome ... we'll stand hand in hand" - "Wir werden Hand in Hand stehen" - stiegen in denn kalten Mittagshimmel." Minuten später war die Kette wieder Geschichte.Einer, der an diesem Tag ebenfalls aus innerer Überzeugung dabei war und Geschichte schreiben wollte, erlebte eine der größten Enttäuschungen seines Künstlerlebens: Peter Maffay. Er trat mit prominenten Musikern wie Konstantin Wecker, Bettina Wegener und der Band Ton, Steine, Scherben bei der Abschlusskundgebung auf dem Neu-Ulmer Volksfestplatz auf. Doch die gut 150 000 Menschen pfiffen ihn gnadenlos aus. Auf einem Transparent musste er lesen "Lieber Pershing 2 als Peter Maffay". Nach nur einem Lied gab er auf.
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