Der Zorn der Überlebenden von London
Nach der Brandkatastrophe im Londoner Grenfell Tower fühlen sich Hinterbliebene und Anwohner hintergangen.
Der ausgebrannte Grenfell-Tower thront gespenstisch über dem Londoner Stadtbezirk Kensington und Chelsea. Vier Wochen nach der Brandkatastrophe mit mindestens 80 Toten sind Wände und Zäune in den umliegenden Straßen noch immer mit Vermisstenanzeigen übersät. Am Boden liegen welke Blumen, Teddys, Fußbälle. Einige hundert Menschen haben sich an einem Abend im Juli in der Nähe des Wohnturms zu einer Mahnwache versammelt. Sie zünden Kerzen an, weinen, halten sich aneinander fest. Darunter auch Desiree Cranenbrug. Die 60-jährige Erzieherin hat in einer Kita im Grenfell-Tower gearbeitet und kannte dort viele Kinder und ihre Familien. Einige davon haben das Unglück nicht überlebt.
Schuld daran sei eine Kultur der Vernachlässigung durch die Bezirksverwaltung, glaubt sie. Das Schlagwort von der "Kultur" ist überall zu hören. Viele Menschen sind sich sicher, dass hinter den haarsträubenden Versäumnissen im Brandschutz am Grenfell-Tower System steckte. Sie fühlen sich von der Bezirksverwaltung und der Regierung hintergangen.
"Die wollen Leute wie uns aus London heraushaben", sagt Cranenbrug. Deswegen würden Sozialwohnungen systematisch vernachlässigt, die Bewohner mürbe gemacht. Melde man Mängel an seiner Wohnung, treffe man seit Jahrzehnten auf taube Ohren, klagt Tarik El-Fassy, ein Bauarbeiter aus der Nachbarschaft. Das Misstrauen steckt tief. Ob die Behörden es je überwinden können, ist fraglich. Premierministerin Theresa May kündigte zwar eine umfassende Untersuchung an, doch zum Chefermittler berief sie einen ehemaligen Richter, der in dem Ruf steht, im Zweifel gegen die kleinen Leute zu entscheiden.
Einen eiligen Test auf Brennbarkeit an Fassadenteilen hunderter Hochhäuser in England bestand kein einziges. Wie die Fassaden feuersicher gemacht werden sollen, ist den lokalen Behörden und Eigentümern überlassen. Das zuständige Ministerium konnte über bereits ergriffene Maßnahmen auf Anfrage keine Auskunft geben. An knapp 400 Hochhäusern steht der Test noch aus.
Auch die Bezirksverwaltung im Stadtteil Kensington und Chelsea scheint noch immer heillos überfordert zu sein. Die Unterbringung der Überlebenden in Hotels verlief chaotisch, berichtete die BBC. Der Vorsitzende des Bezirksrats musste inzwischen zurücktreten. Der Polizei wird vorgeworfen, Angehörige von Toten und Vermissten nur spärlich zu informieren und Verantwortliche zu schonen. Die Polizei geht davon aus, dass zurzeit des Unglücks 350 Menschen im Grenfell-Tower wohnten. Viele Anwohner glauben, dass es weitaus mehr waren. Identifiziert wurden bislang 32 Opfer. Von Dutzenden fehlt jede Spur. Für die Angehörigen ist die Ungewissheit kaum zu ertragen.
Unklar ist auch, ob es je zu einer Anklage kommen wird. Die Polizei ermittelt wegen fahrlässiger Tötung. Als Verantwortliche in Frage kommen rund 60 Firmen und Organisationen, dazu dutzende Einzelpersonen. Noch gab es keine einzige Festnahme oder Verhör. Für die Menschen am Grenfell-Tower ein weiterer Beleg, dass es die Behörden nicht ernst meinen mit der Aufklärung. Christoph Meyer, dpa
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