Ein Bus fährt gegen das Elend: Immer mehr Obdachlose in Berlin
Ein Ziel hat der Kältebus in Berlin: In der Nacht soll keiner der vielen Obdachlosen erfrieren. Wieso immer mehr Menschen in der Hauptstadt kein Dach über dem Kopf haben.
"Danke, danke", sagt der junge Mann immer wieder, während seine Freundin mit dem Kopf unter einer Decke Heroin von einer Aluminiumfolie raucht. Zwei Mitarbeiter des Kältebusses der Berliner Stadtmission überreichen Schlafsäcke an das Pärchen, das nachts im Regen bei fünf Grad Außentemperatur auf einem Gehweg im Bezirk Reinickendorf lungert. Das Elend auf Berlins Straßen wächst, doch wenigstens erfrieren soll hier niemand.
Seit Anfang November rollt der blaue Van wieder 150 Nächte lang ununterbrochen durch die Hauptstadt. Das Team aus etwa 30 Helfern, fast ausnahmslos Freiwillige, nimmt telefonisch Notrufe aufmerksamer Berliner entgegen und fährt die üblichen Schlafplätze der Bedürftigen ab. Die Mitarbeiter offerieren den Obdachlosen trockene Schlafsachen, warme Getränke und ein offenes Ohr. Wer möchte, wird in eine Notübernachtung gefahren.
Die beide Heroinabhängigen möchten nicht. "Da holst du dir nur Krätze und Läuse - hatten wir schon, brauchen wir nicht", sagt die Frau. "Klar, das kann passieren, ist aber eher die Ausnahme", sagt Yannick, der in dieser Nacht den Bus fährt. Aber niemand wird zu etwas gezwungen. Yannick und Beifahrer Aaron überreichen eine Tafel Schokolade und zwei Zigaretten, dann fahren sie weiter.
Kältebus in Berlin: Wohnungsnot nur ein Grund für Obdachlosigkeit
In seiner 23. Saison hat der Kältebus mehr Menschen als je zuvor zu versorgen. Die schwer zu schätzende Zahl der Obdachlosen Berlins geben Hilfsorganisationen mit 3000 bis 6000 Menschen an. Es könnten aber auch mehr sein. Die Wohnungsnot in Berlin ist ein Grund für die Zunahme, die stetig wachsende Zahl osteuropäischer Obdachloser ein anderer.
Seit Wochen streitet die Stadt über wilde Zeltlager von zumeist polnischen Obdachlosen. Anlass ist der Tod einer Passantin, die abends im Tiergarten in der Nähe eines solchen Lagers überfallen und erschlagen wurde. Mehrere Camps wurden seitdem geräumt. Ihre Bewohner müssen deshalb ständig neue Lagerplätze finden. Bis zum Frühjahr - dann ist es erträglicher, unter freiem Himmel zu schlafen, und ein Zelt kein Muss.
"Przepraszam, Entschuldigung", ruft Aaron auf polnisch drei Obdachlosen zu, die unter einer Brücke am Ostbahnhof liegen. Einer der Männer wacht grummelnd auf, erblickt das Fahrzeug und ruft lachend: "Kaltebuuus." Die beiden Studenten geben ihm Tee und ein wenig Kleidung. Die Männer schlafen auf schmutzigen Matratzen. Ihre Habseligkeiten lagern in Einkaufswagen voller Plastiktüten. Es riecht nach Urin, Fäkalien und Schnaps.
"Die einen wollten im Westen Karriere machen und trauen sich nach ihrem Scheitern nicht zurück", sagt Yannick. "Andere waren schon in Polen obdachlos, aber in Berlin kann man leichter überleben." Berliner und Touristen spenden Kleingeld, es gibt das Pfandflaschensystem und die Notübernachtungen. Polen will künftig Sozialarbeiter finanzieren, um seine Staatsbürger zur Heimkehr zu überreden. Doch nur die wenigsten möchten zurück.
Bei Minusgraden sind es schnell über hundert Anrufe
Aaron berichtet von einem polnischen Arbeitsmigranten, der binnen eineinhalb Jahren am Leben auf der Straße zugrunde ging. Der einstige Hüne sei zu einem Häufchen Elend verfallen, kaputt vom Alkohol und Schlägereien. "Mir zerreißt es das Herz, dass Menschen vor meiner Haustür in den Tod vegetieren." Er meint das wörtlich. Faulende Arme und Beine wegen unbehandelter Wunden - "das ist ein alltägliches Bild".
Es ist eine ruhige Nacht: Zwischen neun und vier Uhr kommen 14 Anrufe von besorgten Bürgern und mitfühlenden Polizisten. Bei Minusgraden sind es schnell hundert und mehr. Sieben Menschen, die darum bitten, werden irgendwie versorgt.
"Schlafsäcke sind immer knapp", sagt Yannick. Sie werden schnell nass und sind für Obdachlose kaum zu trocknen. Auch Unterwäsche hat die Stadtmission nie genug. Aaron sagt: "Welche Würde ein frischer Schlüpfer einem Menschen geben kann, ist schon erstaunlich." dpa
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