Fasten vor dem Vollrausch
Magersucht und Bulimie sind als krankhafte Essstörung längst bekannt. Doch es gibt ganz neue, auffällige und gefährliche Verhaltensweisen rund um das Thema Essen. Es wird gefastet, um noch ausreichend Alkohol zu sich nehmen zu können. Der Figur wegen. Von Gloria Brems
Von Gloria Brems
Augsburg - Magersucht und Bulimie sind als krankhafte Essstörung längst in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen. Doch es gibt ganz neue, auffällige und gefährliche Verhaltensweisen rund um das Thema Essen.
Gemeinsam haben sie, dass es offenbar einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen gibt. Dünn sein ist Pflicht, gesundes Essen ein Muss und Alkohol trendy. Ärzte und Psychologen zeigen sich nicht verwundert, dass mit dem Wandel der gesellschaftlichen Werte auch die Essstörungen neue Formen annehmen.
Fasten vor dem Saufen: "Drunkorexie"
Ein Bier hat 200 Kalorien, ein Glas Rotwein 160, zwei Wodka knapp 1000. Damit ist der Tagesbedarf gedeckt. Wenn Michaela (20) abends ausgeht, isst sie tagsüber nichts. Sie will nicht zunehmen. Und weil ihr Feiern und Alkohol trinken lieber ist als essen, verzichtet sie auf Nahrung. Hat sie das Hungern mal nicht ausgehalten, trinkt sie und entsorgt dann die Getränke und vorherige Mahlzeiten gleich mit, indem sie sich übergibt. Das geht in besoffenem Zustand bekanntlich besonders leicht.
"Drunkorexie" ist die modische Bezeichnung für dieses Verhalten. Das Wort ist eine Kombination aus "drunk" (englisch für betrunken) und "Anorexie" (Fachbezeichnung für Magersucht). Eingang in die Fachliteratur hat es allerdings noch nicht gefunden. Zu jung ist das Phänomen, bei dem sich Ärzte und Ernährungsexperten noch nicht sicher sind, ob es sich wirklich um eine eigenständige Krankheit handelt oder ob man die Betroffenen zu Alkohlkranken oder doch lieber zu Menschen mit Essstörung zählen soll.
Anstatt abends auf Drinks zu verzichten, sparen junge Menschen die Kalorien lieber beim Essen ein. Was auf den ersten Blick relativ harmlos klingt, kann zu einer akuten Mangelernährung führen. Heike Künzel, Oberärztin am Zentrum für psychische Gesundheit am Klinikum Ingolstadt, erklärt die Folgen: "Wer auf normale Nahrung verzichtet, nimmt zu wenig Nährstoffe, Vitamine und Mineralien auf. Zum anderen schädigt der Alkohol an sich schon genügend den Körper."
Dünn dank Diabetes: "Diabulimie"
Nadja (18) war immer schlank. So schlank, dass ihr die Mädchen neidische und die Jungs bewundernde Blicke zuwarfen. Vor drei Jahren kam die Diagnose: Nadja hat Diabetes mellitus Typ 1, eine Zuckerkrankheit, die mit Insulin recht gut behandelt werden kann. Doch für Nadja stand schnell fest: Insulin macht dick! Und tatsächlich hilft das Insulin dem Körper Kohlenhydrate besser zu verwerten. Überschüssige Kalorien werden dann als Fett gespeichert. Nadja hat deswegen kurzerhand ihre Insulindosis zunächst eigenständig gesenkt und schließlich ganz aufgehört das für sie lebenswichtige Medikament zu spritzen.
"Diabulimie" haben das die Experten genannt. Betroffen sind meist junge Mädchen, die unter Diabetes Typ 1 leiden. Sie sind der Meinung, nur wer dünn ist, ist schön. Doch die Insulinspritze bedingt oft das Gegenteil. Der gesellschaftliche Druck ist groß, so dass einige Diabetes-Patienten kurzerhand die Insulinspritze absetzen und die anstrengende Diabetiker-Diät aufgeben um wieder rank und schlank zu sein. Die Schäden, die die unbehandelte Zuckerkrankheit nach sich ziehen, sind enorm. Künzel sagt es drastisch: "Wer seine Zuckerkrankheit nicht behandelt, stirbt früher. Diabulimiker nehmen es der guten Figur zuliebe in Kauf zu erblinden, die Nieren zu schädigen und die Haare ausfallen zu lassen."
Alles nur noch Bio: "Orthorexie"
Eigentlich wollte sich Markus (29) nur gesund ernähren. Schließlich wird überall propagiert biologisch gesund zu leben. Aber der Reis ist genmanipuliert, das Obst mit Spritzmitteln und Autoabgasen verseucht und Fleisch voll mit Antobiotika und BSE. So zumindest sieht das Markus. Heute isst er nur noch Bioprodukte. Seine Hirse zum Beispiel bestellt er in Afrika. Er isst nichts, über dessen Herkunft er nicht genau Bescheid weiß. Weiß er es nicht, hungert er lieber.
"Orthorexie" ist noch wenig bekannt. Erst vor elf Jahren prägte der Amerikaner Steven Bratman den Begriff "Orthorexia nervosa". Er bezeichnete damit eine Essstörung, die sich in einer übersteigerten Fixierung auf jeweils als gesund angesehene Nahrungsmittel äußert. Ob Orthorexie (griechisch "ortho" bedeutet "richtig") allerdings ein eigenständiges Krankheitsbild ist, ist in Fachkreisen umstritten. Ähnlich wie "Drunkorexie" und "Diabulimie" bezeichnen viele Experten auch "Orthorexie" als "Modediagnose". Fest steht jedenfalls, dass bei "Orthorexie" die Sorge um gesundes Essen krankhafte Züge annimmt.
"Alles, was Zusatzstoffe enthalten oder ungesund, dickmachend, krebserregend oder allergieauslösend sein könnte, wird weggelassen", erklärt Künzel. Die einseitige Mangelernährung sei nur eine Folge dieser Erkrankung. "Wesentlich schlimmer sind die sozialen Auswirkungen", sagt Künzel, "Orthorektiker sind häufig gesellschaftlich isoliert und vereinsamt.
Wer lädt schon jemanden noch einmal ein, der bei einem Essen ausschließlich die selbst mitgebrachten Speisen isst?"
Info und Hilfe
Diese Einrichtungen können bei Essstörungen erste Anlaufstellen sein:
Caritas Augsburg Tel.: 0821/31 56-432
ANAD München Tel.: 089/21 99 73-0 Schneewittchen Tel.: 0821/3 44 990-13
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