Landflucht in Spanien: Die letzten Zwei in ihrem Dorf
Juan Martín Colomer und seine Frau leben seit 40 Jahren allein im spanischen Örtchen La Estrella. Sie sind glücklich. Doch mit ihnen wird auch das Dorf sterben.
Keine Asphaltstraße, sondern eine kilometerlange Schotterpiste führt durch Täler und Wälder zu dem Dorf La Estrella. In diesem Nest gibt es 45 Häuser, ein Rathaus, eine Kirche – aber nur noch zwei Einwohner: die 85-jährige Sinforosa Sancho und ihren 84-jährigen Ehemann Juan Martín Colomer.
Seit gut 40 Jahren leben die beiden Alten alleine im Ort. Ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, Telefonleitung und Fernsehapparat. In der Gesellschaft von ein paar Hühnern, Kaninchen, Hunden und Katzen. Mit einem Obst- und Gemüsegarten hinterm Haus. Ein früheres Gasthaus, auf dessen Dach immerhin ein Zeichen der Moderne glänzt: Solarzellen, um ein bisschen Strom zu produzieren.
Auf Landkarten findet man La Estrella selten
"Wir sind genügsam, wir brauchen nicht viel", sagen die beiden Einsiedler aus La Estrella, das in Spaniens bevölkerungsärmster Provinz Teruel liegt. Seit sie in dem Kurzfilm "The Last Two – Die letzten Zwei" verewigt wurden, sind sie vermutlich Teruels berühmteste Dorfbewohner. Den Film kann man sich kostenlos auf der Internetplattform Vimeo ansehen. Auf Landkarten hingegen findet man La Estrella selten, auch Google Maps kennt es nicht. Vor vier Jahrzehnten wohnten in dem Dorf, das zur nordostspanischen Region Aragonien gehört und mehr als 20 Kilometer vom nächsten Ort entfernt ist, noch 200 Menschen. Es gab eine Schule, einen Pfarrer, einen Bürgermeister, einen Polizisten und sogar einen Torero. Doch sie alle flohen vor der Einsamkeit in größere Ortschaften, wo es mehr Arbeit gab. Und mehr Leben.
Aber jeder hat eben andere Vorstellungen von dem, was Leben ist. Für Sinforosa Sancho und Juan Martín Colomer ist es die Treue zu ihrem Dorf. Die 85-Jährige ist in La Estrella aufgewachsen. Ihr Mann ist als Schafhüter ein bisschen herumgekommen. Im Film gesteht er, dass er vor Jahrzehnten gern in die Stadt gegangen wäre. "Aber ich kann sie nicht zurücklassen", sagt er, wenn er an seine Frau denkt. Die beiden haben sich dazu entschlossen, in La Estrella zu leben, so lange es geht. Dort, wo sie sich vor über 60 Jahren beim Hüten kennengelernt haben. "Wir haben keine Angst vor der Einsamkeit", sagt Colomer. "Ich hätte wahrscheinlich viel mehr Angst in einer großen Stadt wie Madrid oder Barcelona."
Zweimal im Jahr kommen die Wallfahrer nach La Estrella
Seine Frau ist sicher: "Es gibt drei wichtige Dinge im Leben", sagt sie, "und zwar Gesundheit, Liebe und Geld". All das sei ausreichend vorhanden. Ihre Rente von rund 1200 Euro monatlich brauchen die beiden allein schon, um gelegentlich mit dem alten Land Rover zum Supermarkt im Nachbarort Villafranca fahren zu können. Dort können sie dann all das einkaufen, was sie in ihrem abgeschiedenen Bergdorf, der auf etwa 800 Meter Höhe in der Sierra de Gúdar liegt, nicht selbst produzieren können. In Villafranca, wo immerhin 2300 Menschen leben, wohnt auch ihr Sohn Vicente. Er war übrigens der Letzte, der schon vor Jahrzehnten in La Estrella die Koffer packte. Vicente hatte seine Eltern vergeblich gebeten, mit ihm in die Zivilisation zu kommen.
Doch immerhin bekommen die beiden Eremiten zweimal im Jahr, im Mai und im November, großen Besuch: Dann wandern die Bewohner vom 24 Kilometer entfernten Mosqueruela singend und betend zur jahrhundertealten Dorfkirche in La Estrella, um dort der Heiligen Jungfrau ihre Ehre zu erweisen. Die Jungfrau habe die beiden Alten bisher vor größerem Unheil beschützt, davon sind sie überzeugt. Sinforosa Sancho und Juan Martín Colomer halten zum Dank die Dorfkirche in Schuss. Nur neue Dorfbewohner, die das Erbe von La Estrella bewahren könnten, hat auch die heilige Schutzpatronin bisher nicht in die Einsamkeit geschickt. An etlichen Häusern in La Estrella steht "Se Vende" (Zu verkaufen).
Die Landflucht mach Spanien zu schaffen
Die Landflucht macht vielen Dörfern in der Provinz Teruel, die als einer der einsamsten Flecken der Nation gilt, zu schaffen. Auch in anderen Regionen Spaniens, wie etwa im nordwestspanischen Galizien, verfallen hunderte von Dörfern, in denen niemand mehr leben will. Rund 7000 Weiler und Ortschaften im ganzen spanischen Königreich sind Schätzungen zufolge in den vergangenen Jahrzehnten verlassen worden – oder, wie La Estrella, vom Aussterben bedroht.
Soweit nicht doch noch ein Wunder geschieht, könnte La Estrella in den nächsten Jahren zu einem Geisterdorf werden. "Wenn wir vergehen", befürchtet Juan Martín Colomer, "wird wohl auch unser Dorf sterben."
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