Rekord-Dirigent Gotthilf Fischer wird 85
Besuche beim Papst und beim US-Präsidenten, ein Extasy-Gerücht und ein Eintrag im Guiness-Buch: Gotthilf Fischers Leben ist bewegt. Am Montag wird der Chor-Dirigent 85.
Weltfriedenspreis, Bundesverdienstkreuze, Goldene Schallplatten – Gotthilf Fischer hat so viele Auszeichnungen erhalten, dass er sie trotz seines intakten Gedächtnisses nicht auswendig aufzählen kann.
Der Leiter der legendären Fischer-Chöre steht sogar im Guinness-Buch der Rekorde. Vor Anpfiff des Endspiels der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in München beschallte er das Olympiastadion mit einer Sangesgruppe, bestehend aus 1500 Vokalisten – so etwas gab es vorher nie und seitdem nicht mehr. Selbst Gustav Mahlers Besetzung der Sinfonie der 1000 nimmt sich dagegen weniger monumental aus. Doch Gotthilf Fischer wirkt bescheiden. Jedem seiner Gäste gibt er das Gefühl, wichtig zu sein.
Gotthilf Fischer: "Therapeut der wunden Seelen"
Mit sonorer Stimme schwäbelt er an diesem Vormittag in seinem Büro in Beilstein in der Nähe von Heilbronn über sein Leben. Und das hat in der Tat eine Menge Erfreuliches zu bieten. Musikalische Erfolge, Reisen mit den Chören nach China, Südafrika oder an die Pyramiden, Gotthilf Fischer ist regelmäßig zu Besuch beim Papst, er war beim US-Präsidenten Jimmy Carter und bei der Loveparade in Berlin. Sein angeblicher Ecstasy-Auftritt dort hat ihm Kritik eingebracht. Das leidige Thema wischt er mit einem Satz beiseite: „Ich bin einfach gut drauf. Das macht bei mir die Musik.“
Die Tonkunst scheint ihn in der Tat zu inspirieren. Der „Herr der singenden Heerscharen“ oder „Therapeut der wunden Seelen“, wie er sich selbst nennt, wirkt betriebsam wie eh und je. Nach seiner Notoperation an der Halsschlagader im vergangenen Jahr ist der Dirigent und Komponist, der am heutigen Montag 85 Jahre alt wird, wieder topfit. „Ich hatte lange keinen Arzt besucht. Plötzlich waren im vergangenen Jahr die Adern verstopft. Dann folgte ein Schlag nach dem anderen. Jetzt geht es mir wieder hervorragend.“ Fischer erzählt von seiner lebensgefährlichen Krankheit, als wäre es eine leichte Grippe gewesen.
Gesundheitlich läuft er wieder im Allegro, also munter und fröhlich, er schätzt den geschäftigen Rhythmus seines Alltags. Die Woche über hält er jeden Abend seine „Singstunde mit den Chören“ ab, wie er es nennt. Montags in Ludwigsburg, am Dienstag in Stuttgart, Mittwoch Schwaikheim, Donnerstag Bönnigheim bei Heilbronn, freitags in Fellbach-Schmiden. Fast jeden Samstag und Sonntag wird konzertiert.
Ein warmes Essen gönnt er sich erst am Nachmittag
An diesem Abend stehen der Männer- und der gemischte Chor in Schwaikheim an. Auch wenn der Andrang nicht mehr ganz so groß ist, kommen mehr als 100 Sängerinnen und Sänger zur Probe. Fischer übt für die Frühjahrskonzerte und die eigenen Geburtstagsveranstaltungen. Auf dem Programm stehen diesmal keine Volkslieder. Stattdessen klassische Werke – „die schönsten Chöre der Oper“. Wagners „Tannhäuser“, Mozarts „Zauberflöte“ und Verdis „La Traviata“.
Um seinen durchgetakteten Alltag zu bewältigen, ist der Dirigent schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. Nach einem Schüsselchen Obstsalat legt er normalerweise in seinem Musikzimmer auf dem Flügel los: Die Chorsätze für den Abend hat Fischer bereits geschrieben. Ein warmes Essen gönnt er sich erst am Nachmittag.
Gotthilf Fischer wollte eigentlich Sportlehrer werden
Fischers großer Dreiklang besteht aus Komponieren, Arrangieren und Dirigieren. Singen ist für ihn sein Lebenselixier. Wer ihn erlebt, glaubt das gerne. Geboren 1928 in Plochingen am Neckar, ist der Sohn eines Zimmermeisters und Hobbymusikers früh aktiv. Bereits mit 14 Jahren gründete er seinen ersten Chor. Der „Herr der Sänger“ studierte in den letzten drei Kriegsjahren an der Lehrerfortbildungsanstalt in Esslingen und wollte eigentlich Sportlehrer werden.
Doch als er – noch während des Krieges – einmal eine Chorprobe leitete, war es um ihn geschehen: „Das war einfach Bestimmung.“ Fischer wurde Leiter des Concordia Gesangvereins in Deizisau im Landkreis Esslingen. 1949 gewann der Chor unter seiner Leitung beim großen schwäbischen Sängerfest in Göppingen die beiden Wettbewerbe in Volks- und Kunstgesang. Es war sein erster Erfolg. Seitdem sammelt der Autodidakt, der niemals eine akademische musikalische Ausbildung genossen hat, Chöre wie andere Briefmarken.
„Ich mach’s gerne und freue mich über jeden Tag. Und wenn ich zurückdenke, kommt es mir vor, als hätte es erst gestern angefangen“, erzählt der Mann, der in seinem Leben drei Flugzeugabstürze überlebte und über 16 Millionen Schallplatten verkaufte. Plötzlich sei er nun 85, dabei habe es erst gerade noch geheißen: Schau her, das junge Fischerle! Was ihn immer wieder zeigt, wie die Zeit rast, sind die Beerdigungen. Hunderte Chormitglieder hat er gehen sehen. „Das sind ganze Dörfer, die ich schon als Sänger verloren habe.“
Fischers Grabkreuz steht bereits seit 40 Jahren
Den Tod bezeichnet Fischer als etwas Selbstverständliches: „Wir sind dafür geplant. Vor uns Milliarden Menschen, nach uns Milliarden, so ist es halt.“ Sein größter Wunsch ist es, einmal beim Dirigieren tot umzufallen. In seinem Alter hat er die Dinge längst geregelt: „Mein Grabkreuz steht bereits seit 40 Jahren daheim neben dem Klavier. Name und Geburtsdatum sind bereits eingraviert. Die Verwandtschaft muss nur noch das Sterbedatum hinzufügen.“
Aus seinem Leben etwas zu machen, das hält Fischer für seine oberste Pflicht. Und, Fischer spricht es nicht direkt aus, aber man spürt es: Er ist, auch was das betrifft, mit sich im Reinen. Wenn man so viel erreicht hat wie die Chorlegende, hat man selbst keine großen und spinnerten Träume mehr. Fischer möchte „nicht uralt werden“ und wirkt zufrieden dabei. Sein, wie er sagt, „größtes Glück neben dem Singen ist, dass ich noch aus dem Haus kann und noch höre“. Viele Mitglieder aus seiner Familie seien nämlich im Alter taub geworden.
Fischer: Deutsche Musikkultur verfällt
Der Chorleiter, der in Weinstadt-Beutelsbach lebt und seit dem Tod seiner Frau ein wenig Vagabund geworden ist, hält es nicht mehr lange an einem Ort aus. Seine 2009 verstorbene Hildegard vermisst er. Oft sei er bei seinen Kindern zu Besuch, sagt er und fügt hinzu: „Ich bin da immer gerne gesehen.“ Gotthilf Fischer weiß jedoch, dass manche Leute ihn und seine Sangesmission nicht ernst nehmen. „Die sagen, ich sei ein Verrückter. Aber da lach ich und antworte, Schad’, dass sie nicht mit dabei sind.“
Die Konzerte seiner Chöre seien immer noch gut besucht. Doch auch er spüre ein nachlassendes Interesse beim Kartenverkauf. Man müsse immer mehr tun, um das Publikum in die Säle zu holen. „Heute“, sagt er, „haben die Leute 50 verschiedene Möglichkeiten, um irgendwohin auszugehen.“ Früher hätten sie sich ein Vierteljahr auf ein Konzert gefreut.
Überhaupt stellt der der volkstümlichen Musik zuzurechnende Fischer einen gewissen Verfall der Musikkultur im Land von Beethoven und Wagner fest. Er selbst hingegen wirkt ein wenig wie ein Überbleibsel aus einer versunkenen Zeit, als es noch kein Fernsehen und kein Internet gab, als man abends in den Familien Lieder sang. Fischer besitzt zwar digitale Abspielgeräte, aber er nutzt sie nicht: „Weil ich nicht daran glaube. Das Neue kommt und geht rasend“, sagt er.
Seine Vision: Jede Familie sollte morgens singen
Saft- und kraftlos will er die Bühne den Jungen nicht überlassen. Als der Berliner Rüpelrapper Bushido vergangenes Jahr ankündigte, politisch aktiv zu werden, hielt Fischer prompt dagegen: „Dem schunkle ich die Wähler weg.“ Seine Partei sei das Singen. Heute sagt er: „Deutschland ist für mich eine einzige singende Volkspartei. Selbst die, die nicht zu mir kommen, schreien auf dem Fußballplatz wie die Verrückten.“
Wie viel Bitterkeit in solchen Sätzen steckt, ist nur schwer zu sagen. Denn Fischer ist keiner, der mit Schaum vor dem Mund spricht. Ihm wäre es anders lieber. Seine gesellschaftliche Vision: Jede Familie sollte morgens singen. Jede Firma, jede Schule und jede Vereinigung. Auch im Bundestag und im Landtag – „da wäre gleich eine andere Stimmung im Land“.
Und wenn einer seine Geschichten vom Wunder der Musik nicht glauben will, dem erzählt er von einem Freiluftkonzert in Hannover, wo ihn vor Jahren einmal Punker vermöbeln wollten. „Ich bin auf die jungen Leute mit den Nietenjacken und den seltsamen Frisuren zugegangen und habe gesagt: So Freunde, regt euch mal ab. Wir singen jetzt zusammen ,Hoch auf dem gelben Wagen‘. Und was soll ich sagen: Die haben mitgesungen.“
Und weil er auch an seinem 85. Jubiläum die heilsbringende Wirkung von Musik unter die Menschen bringen möchte, ruft Fischer auf seiner Webseite zur großen Mitsing-Aktion auf. Wer also auf einer Fischer-CD verewigt werden möchte, kann ein von ihm komponiertes Geburtstagslied mitträllern und wird zur Aufnahme dazu gemischt. Der Titel ist Programm: „Happy Birthday – alles Gute“!
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