Trauer und ein Hoch auf das Leben: Paris erinnert an die Terrornacht
Ein Jahr danach blickt Paris zurück. Das Trauma der Anschläge ist in der Stadt noch deutlich spürbar. Doch viele Menschen wollen sich der Angst nicht beugen.
Im "Bataclan" wird wieder getanzt. Beim ersten Konzert nach dem Terror erobert sich das Publikum den Saal singend, klatschend und jubelnd zurück - der Auftritt des britischen Musikers Sting ist ein symbolträchtiger Neuanfang, ein Zeichen der Hoffnung, ein Bekenntnis zum Leben. Und ein scharfer Kontrast zur Stimmung am nächsten Tag, als vor der bunten Fassade wieder Menschen ihre Köpfe senken und Kerzen anzünden: Auf einer großen Tafel stehen die Namen der 90 Menschen, die hier vor einem Jahr von Islamisten ermordet wurden.
Es ist ein Wochenende zwischen Trauer und Lebensdrang, mit dem Frankreich an die verheerenden Anschläge des 13. November erinnert. "Wir versuchen, damit zu leben", sagt François Delain (26), der erstmals seit den Anschlägen vor das "Bataclan" gekommen ist. "Es wird nie wieder sein wie zuvor."
Die Staatsspitze hält sich an diesem Tag bewusst zurück, Präsident François Hollande enthüllt an den Anschlagsorten schweigend die Gedenkplaketten für die insgesamt 130 Todesopfer. Ansonsten dominieren an diesem November-grauen Sonntag sehr private Gesten: Viele Menschen legen Blumen nieder, manche haben Tränen in den Augen. Ein Opferverband lässt bunte Luftballons steigen.
Die Anschläge haben das Land tief erschüttert. Nicht nur in dem angesagten Szeneviertel, in dem die Terroristen Bars und das "Bataclan" angriffen, wirkt das Trauma nach. Ein Hinterbliebener verleiht dem Ringen der Nation mit sich selbst Ausdruck, in einem eindringlichen Plädoyer für Toleranz. "Wie kann man Resentimens und Hass vermeiden? Wie kann man unter der Bedrohung neuer Anschläge wieder ein freies Land werden?", fragt Michael Dias, dessen Vater vor dem Stade de France zum ersten Opfer der Terroristen wurde. Bei der Gedenkzeremonie am Stadion sagt er: "Ich höre meinen Vater immer sagen, dass es unmöglich sei, mit der Angst im Bauch zu leben."
Doch es gibt auch andere Stimmen. Auf dem Platz der Republik fordert ein Mann wütend ein härteres Vorgehen gegen die Terroristen, er sei für die "selektive Todesstrafe".
Für viele Besucher des Sting-Konzerts ist die Wiedereröffnung des "Bataclan" ein wichtiges Zeichen, sich dem Terror nicht zu beugen. "Wir feiern das Leben und gedenken der Menschen, die vor einem Jahr gestorben sind", sagt Ruben. Der 34-Jährige stammt aus Portugal und wohnt nun in Brüssel, er ist extra für das Konzert nach Paris gekommen. "Damit sorgen wir auch dafür, dass unsere Werte und unsere Überzeugungen sich durchsetzen."
Der Konzertsaal mit der bunten Fassade, die durch den islamistischen Anschlag vom 13. November traurige Berühmtheit erlangte, gleicht am Samstagabend einer Festung. Überall schwer bewaffnete Polizei. Wer zum Saal will, wird von Sicherheitsleuten gründlich abgetastet.
Der neue "Bataclan"-Schriftzug in tanzenden roten Lettern ist schon etwas länger zu sehen. Nun entdeckt das Publikum des ausverkauften Konzerts auch das komplett renovierte Innere: Der Balkon mit rotem Stoff verkleidet, das Parkett blank und ohne Schrammen. Schwer, dieses Bild mit dem Drama überein zu bringen, das sich hier abgespielt hat, als beim Auftritt der US-Rockband Eagles of Death Metal ein Terror-Kommando hereinstürmte. Die Notausgang-Türen links neben der Bühne wurden damals zu einem Faktor von Leben und Tod.
"Gute Freunde von mir haben nicht überlebt", sagt Gerald Granvilliers. Er sei an diesem Abend hier für Sting, aber vor allem zum Gedenken. "Wenn man kann, muss man dabei sein." Nach seinen Empfindungen gefragt, ringt er nach Worten. "Viele Emotionen, auch viel Traurigkeit. Ein merkwürdiges Gefühl", sagt er. Und eine klare Botschaft: "Das Leben muss weitergehen." Dieser Satz fällt oft.
Als Sting auf die Bühne kommt, bittet er auf Französisch um eine Schweigeminute. Der gut gefüllte Saal wird mucksmäuschenstill, dann stimmt der 65-Jährige seine Ballade "Fragile" an. Auf den nachdenklichen Einstieg folgt ein Mix aus bekannten Hits wie "Englishman in New York" und "Every Breath You Take" sowie Songs von seinem gerade erst veröffentlichten Album "57th and 9th".
Nach mehreren Zugaben setzt sich Sting am Ende allein mit einer Akustikgitarre auf die Bühne. Hinter ihm erscheint ein Foto von James Foley, dem US-Journalisten, der 2014 von einem Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) enthauptet wurde.
"Dieses Lied ist für ihn, seine Familie und alle Familien die an jenem Abend einen geliebten Menschen verloren haben", sagt der Sänger, und singt den Song "The Empty Chair". Es handelt von einem Gefangenen, der seine Familie in Gedanken auffordert, nicht über den leeren Stuhl zu verzweifeln: "Somehow I'll be there" - "Irgendwie werde ich da sein". Im Publikum ist es ganz still, dann bricht donnernder Applaus aus. Und Sting verabschiedet sich mit einem Aufruf: "Vive le "Bataclan"" - "Es lebe das "Bataclan"". Sebastian Kunigkeit, dpa
Die Diskussion ist geschlossen.