Warum die Justiz gegen NS-Täter ermitteln muss, so lange es geht
70 Jahre nach dem Ende des Holocaust steht der „Buchhalter von Auschwitz“, Oskar Gröning, vor Gericht. Gut so. Ein Kommentar
Oskar Gröning hat sich nicht versteckt, hat seine moralische Schuld nicht bestritten. Juristische Verantwortung aber wollte er dafür nicht tragen. Bis vor gar nicht allzu langer Zeit konnte er sich dabei auf die deutsche Justiz berufen. Mangels Tatverdachts stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt 1985 das Verfahren gegen den „Buchhalter von Auschwitz“ ein.
Doch seit dem 12. Mai 2011 ist alles anders. An diesem Tag wurde John Demjanjuk in München wegen Beihilfe zum Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ein Urteil mit großer Tragweite: Denn Demjanjuk wurde schuldig gesprochen, obwohl es nicht gelang, ihm nachzuweisen, dass er persönlich in einen Mordfall im Lager Sobibor verwickelt gewesen ist. Für die Richter war es ausreichend, dass Demjanjuk als Aufseher „Teil der Tötungsmaschinerie“ gewesen ist. Das war eine spektakuläre Abkehr von dem Rechtsgrundsatz, dass eine individuelle Schuld bewiesen werden muss. Ein Grundsatz, der bei ähnlich gelagerten Fällen zuvor stets herangezogen wurde.
Doch es gab einen bitteren Beigeschmack: Verurteilt wurde ausgerechnet ein gebürtiger Ukrainer, eine kleine Schraube in der Höllenmaschine. Demjanjuk bekam die Wucht der Justiz zu spüren, während deutsche Nazi-Verbrecher mit weit mehr Verantwortung von Strafverfolgung unbehelligt blieben. Und doch war die Kehrtwende, die dieser Prozess brachte, richtig. Von der Verurteilung Demjanjuks ging das Signal der Entschlossenheit aus, die Bilanz der Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu verbessern.
Dafür gibt es gute Gründe: Zwar gab es vorbildliche Prozesse wie das von dem legendären Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierte erste Auschwitz-Verfahren in den 1960er Jahren. Aber es gab neben hartnäckigen Ermittlern auch hinhaltenden Widerstand im Justizapparat. So kamen NS-Täter davon, weil Verjährungsfristen verstrichen, ohne dass der Gesetzgeber einschritt. Hinzu kamen Verfahrenseinstellungen, die Historiker und kritische Juristen fassungslos zurückließen. Nach 1965 verhinderte eine unausgesprochene Übereinkunft unter Staatsanwälten die Verfolgung derjenigen, denen keine direkte Beteiligung an schweren Misshandlungen oder Morden nachzuweisen war. Wertvolle Zeit ging so verloren.
Die Hoffnungen vieler der letzten Überlebenden auf späte Gerechtigkeit erfüllten sich nach dem Demjanjuk-Urteil allerdings nicht. Viele Prozesse gegen die betagten Täter platzten. Die Gründe sind profan: Krankheit und Tod.
Gröning sollte jetzt weiterreden, sollte Zeugnis ablegen
Opfer, die sich vor dem Verfahren gegen Gröning zu Wort gemeldet haben, sehen nicht die Aspekte Strafe oder gar Rache im Vordergrund. Der 93-jährige Angeklagte immerhin hat – anders als viele Täter vor ihm – nicht nur bereits am ersten Tag gesprochen, er hat auch gestanden und um Vergebung gebeten.
Wer vermag schon zu sagen, ob das taktisch motiviert war. Aber für die Überlebenden ist es allemal besser als dröhnendes Schweigen. Gröning sollte jetzt weiterreden, sollte Zeugnis ablegen von dem Lagerleben und -sterben in Auschwitz. Natürlich reißen die Schilderungen wieder Wunden auf, aber sie geben zumindest einigen Ermordeten ein Gesicht. Es würde sie für einen Moment dem Vergessen entreißen. Vor Beobachtern und Journalisten aus der ganzen Welt.
In Israel gibt es den Begriff Schattenfamilien. Familien, die von traumatisierten Überlebenden des Infernos gegründet wurden. In denen der Schmerz über das Schicksal der in den KZ ermordeten Verwandten seit Jahrzehnten allgegenwärtig ist. Gerade diese Familien blicken auf uns.
Es ist die Aufgabe der deutschen Behörden, gegen NS-Verbrecher zu ermitteln – solange es geht.
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