Wie es sich anfühlt, Patti Smith zu sein
Sie ist die Patin des Punk, Ikone der Pop-Kultur, ihr Leben ist Legende. Jetzt gewährt die große Sängerin, Dichterin, Malerin und Fotografin berührende Einblicke in ihr Innerstes.
Wer sie auf der Bühne erlebt und dabei sieht und spürt, wie sie mit bald 70 Jahren in ihrem Straßenköter-Look beim wohl tausendsten Absingen ihres Evergreens „Be-cause the Night“ noch immer pure Freude und große Würde ausstrahlt, der könnte glatt an Worte aus einem Gedicht von Jim Morrison denken: „Sie tanzt in einem Ring aus Feuer und schüttelt ab die Bedrohung mit einem Schulterzucken.“ Und sei es nur die Bedrohung, abgeklärt oder abgehoben zu wirken, also irgendwie dem Bild einer Ikone gemäß, die sie ja ist: Patti Smith!
Neues Buch "M Train": Keine Fortsetzung von Patti Smith' Vergangenheit
Aber lassen wir das. Um die Ikone, die noch immer praktizierende „Patin des Punk“, geht es hier genauso wenig wie um die Legendenzeit an der Seite des Künstlers Robert Motherwell oder ihr engagiertes Auftreten als Friedens- und Frauenrechtsbewegte. Davon kein Wort. Es geht um viel mehr: den Menschen in seinem alltäglichen Leben. Patti Smith nämlich hat mit ihrem neuen, nach einer U-Bahn-Linie in ihrer Heimat New York benannten Buch „M Train“ eben nicht die fulminante Niederschrift ihrer großen Vergangenheit fortgesetzt: „Just Kids“, für das sie vor sechs Jahren in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnet und weltweit gefeiert wurde.
Sie zeigt sich nun auf viel intimere Weise – und unmittelbar. Spürbar wird, wie es ist – im stillen Auge des Star-Trubels und nach all den bewegten Jahren – diese Frau zu sein. Auf Englisch könnte der Titel einfach lauten: „Being Patti Smith“.
Patti Smith gewährt tiefe Einblicke in ihr Privatleben
Sie kann nicht schwimmen, weil Wasser ihr immer unheimlich geblieben ist. Sie geht täglich ins gleiche Café, auch Weihnachten und Silvester, um zum immer gleichen Essen und zur x-ten Tasse schwarzen Kaffees an immer dem gleichen Platz sitzend in ihr Notizbuch zu schreiben. (Wenn der Platz besetzt ist, wartet sie auf der Toilette, bis er frei ist, und wenn das Café schließt, wird sie obdachlos.)
Ihre engsten Freunde können Figuren aus Krimi-Serien im Fernsehen sein, wie die Ermittlerin Sarah Linden aus „The Killing“, die sie lehrt: „Das Einsamste auf der Welt ist, darauf zu warten, dass man gefunden wird.“ Wenn sie ein Buch packt, kann sie lesend in ihm leben, über Wochen und Monate hinweg, wieder und wieder den Details nachforschend: Bulgakows „Der Meister und Margarita“, Bolaños „2666“, Murakamis „Mister Aufziehvogel“, aber auch Hermann Hesse und Robert Musil und Friedrich Schiller. Sängerin Patti Smith mag Friedhöfe
Die Hülle der Einsamkeit ist nur ein Schein
Wenn diese Patti Smith in Zweifel gerät, zieht sie Tarot-Karten, wenn ihr eine völlig heruntergekommene Hütte an der Küste, in Montauk, Vertrautheit einflüstert, arbeitet sie darauf hin, sie sich kaufen zu können. Sie, die zwar berühmt, aber längst nicht reich ist, sie, die in einer kleinen Bude haust, umgeben von alten Bechern mit Kaffeeresten und drei Katzen, sie, die die Vergangenheit in Kartons voller Fotos archiviert, meist merkwürdigen Polaroids, die manchmal nur einen Spazierstock oder eine Engelsfigur oder einen Schachtisch zeigen – aber sie weiß, es ist Virgina Woolfs Stock und der Engel neben Bertolt Brechts Grab und der Tisch, an dem Bobby Fischer Weltmeister geworden ist…
So wirkt das Leben von Patti Smith äußerlich einsam. Noch immer vermisst sie Fred, ihren Mann, den sie 1994 plötzlich durch einen Schlaganfall verloren hat, von dem sie zwei inzwischen längst erwachsene Kinder hat, Jackson und Jesse, mit dem sie sich damals komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Und ihre vielen Pilgerreisen an die Gräber ehemaliger Gefährten wie Sylvia Plath lassen Patti Smith wie eine traurige Hinterbliebene erscheinen. Aber innerlich bleibt sie dabei auf eine seelenvolle Weise belebt, die keinen Unterschied kennt zwischen Wirklichkeit und Magie. Alte Erinnerungsstücke rühren Patti Smith zu Tränen
Ihre Toten sind bei ihr, ihre Welt ist voller Zeichen, ihre Träume weisen ihr Wege. Weil sie darin einem knorrigen Cowboy-Philosophen begegnet, rätselhaft weise wie Gott; und weil dort alles noch ganz ist. Sie schreibt: „Vielleicht können wir Träumereien nicht lebendig machen oder staubige Reste zurückholen, aber wir können den Traum selbst einfangen und ihn heil und ganz zurückbringen.“ Und wenn ihr, wie so oft und so viel, mal wieder etwas abhandenkommt – ihr geliebter, längst mottenzerfressener schwarzer Wollmantel etwa –, dann zeichnet sich darin eine schicksalhafte Spur des ewigen Lebenskreislaufs ab.
Patti Smith auf den Spuren der Erleuchtung
Mag das, wer will, verschroben nennen. Es offenbart sich darin jedenfalls eine Fülle, die die nackte Wirklichkeit nicht zu bieten hat. Patti schreibt: „Ich folge einer Kette von Impulsen, die an Erleuchtung grenzen.“ Und wenn sie diese Impulse wie zufällig in eine geheime Gemeinschaft, gegründet im Gedenken an den deutschen Polarforscher Alfred Wegener, führt, dann spürt sie eben in dessen Geschichte dem Geheimen nach. So ist der „M Train“ auch ein mentaler Zug, der durch die Erinnerung zu einer Reise des Geistes wird.
Klingt es nicht erleuchtet, wenn Smith schreibt: „Scherbe um Scherbe werden wir von der Tyrannei der sogenannten Zeit erlöst… In einem Augenblick, in einem Leben, durchschreiten wir die unendlichen Sätze einer stummen Ouvertüre.“ Man mag ihr fast glauben, wenn eines ihrer Gedichte mit dem Satz endet: „Ich sah die Dinge, wie sie sind.“ AZ
Patti Smith: M Train – Erinnerungen. Übersetzt von Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch, 336 S., 19,99 ¤
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Danke für die schöne Buchvorstellung der fabelhaften Patti Smith. Die "Legendenzeit" an der Seite... verbrachte sie aber an der Robert Mapplethorpes nicht Motherwells.