Boko Haram: Massaker im Verborgenen
Die Dschihadisten-Miliz von Boko Haram will in Nigeria und den Nachbarländern einen islamistischen Gottesstaat errichten. Ihr Vorbild sind die Terroristen des Islamischen Staates.
Abubakar Shekau wählte seine schon gewohnt martialische Pose. In einem Video, das am Dienstagabend ins Internet gestellt wurde, posiert der Anführer der Extremistengruppe Boko Haram mit Maschinengewehr und kugelsicherer Weste. Er feuert einige Schüsse in die Luft, dann liest der Terrorist seine neue Botschaft von einem Blatt Papier ab. Vier maskierte Kämpfer flankieren ihn. Er bekenne sich zu dem brutalen Angriff auf die Stadt Baga, bei dem Anfang Januar hunderte Bewohner getötet wurden, sagt Shekau. Das Volk von Baga sei „umgebracht“ worden. Dann schwenkt die Kamera zu einem Arsenal schwerer Waffen. Seine Videobotschaften sind immer auch eine Präsentation der Stärke.
Flüchtlingsströme verlassen Nigeria
„Wir haben sie in der Tat getötet, so wie unser Gott es in seiner Heiligen Schrift angeordnet hat“, fährt Shekau fort. Das sei außerdem erst der Anfang gewesen. „Wir werden nicht aufhören. Ihr werdet schon sehen.“ Beobachter befürchten, die Sekte werde als Nächstes die Hauptstadt der Provinz Borno State, Maiduguri, angreifen. Denn mit der Eroberung von Baga hat Boko Haram die strategische Voraussetzung geschaffen, weiter in Richtung Süden vorzudringen. Die Terroristen kontrollieren in der Nähe des Lake Tschad ein Gebiet der Größe Bayerns. Betroffen ist die Grenzregion von Nigeria, Niger, Tschad und Kamerun. Tausende sind in die Nachbarländer geflohen, tausende Flüchtlinge werden noch folgen.
In den vergangenen Tagen verließen erneut Hunderte ihre Heimatdörfer. Denn Shekau kündigte angesichts der jüngsten Mobilisierung von Truppen aus Nachbarstaaten weitere Anschläge an: „Ich fordere euch heraus, mich anzugreifen. Ich bin bereit.“ Im Niger hatten am Dienstag Vertreter mehrerer afrikanischer Staaten über den Aufbau einer gemeinsamen Truppe gegen Boko Haram beraten. Bislang war die Strategie erschreckend unkoordiniert, das gestehen selbst die Verantwortlichen ein. Die Ausbreitung der Dschihadistenmiliz in Nigeria und den Nachbarländern „spiegelt unsere Unfähigkeit zu einer robusten Reaktion wider“, beklagte Nigers Außenminister Mohammed Bazoum zur Eröffnung der Konferenz in der Hauptstadt Niamey.
Truppe gegen Dschihadisten offenbar wenig koordiniert
Der Tschad hatte vor wenigen Tagen bereits erste Soldaten in Richtung Kamerun und Nigeria in Bewegung gesetzt, um die Islamisten zu bekämpfen. Allerdings scheint der Einsatz nicht mit Nigeria abgesprochen worden zu sein. Der nigerianische Militärsprecher Chris Olukolade betonte, dass die Offensive des Tschads auf fremdem Territorium nicht von der Regierung in Abuja genehmigt sei. Es könne keine „Solo-Einsätze“ geben, der Tschad sei im Kampf gegen Boko Haram vielmehr Bestandteil einer multinationalen Eingreiftruppe.
Anschläge gab es im Tschad bislang nicht, allerdings ist das Land von den Flüchtlingsströmen betroffen. Mit seiner neuen Führungsrolle im Kampf gegen Boko Haram geht die Regierung des Tschads auf Konfrontationskurs mit Nigerias Präsident Goodluck Jonathan, der in diesen Tagen die Gefahr durch die Terroristen kleinzureden versucht. Im Februar wird in Nigeria gewählt.
Boko Haram geht es offenbar um Territorium
Ohnehin sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern angespannt. Seit den 1970er Jahren gibt es Streit um die Grenzregion, in der beide Länder Öl fördern wollen. Zudem hält sich in Nigeria hartnäckig das Gerücht, Boko Haram werde von hochrangigen Militärs aus dem Tschad unterstützt. Dabei hat die nigerianische Armee Unterstützung dringend nötig. Derzeit setzt sie etwa 20000 Soldaten ein, das ist die doppelte Zahl der Boko-Haram-Terroristen. Doch die Bilanz ist verheerend. Immer wieder desertieren Soldaten, weil bei der Rückeroberung von besetzten Städten und Dörfern zu wenig Truppen eingeteilt werden und die Waffen denen der Terroristen unterlegen sind. „Es ist, als würden wir uns mit Regenschirmen gegen Raketenwerfer verteidigen“, sagte Abiona Elisha im Interview mit der BBC.
„Boko Harams Fokus scheint nun auf der Akquise von Territorium zu liegen“, schrieb der ehemalige US-Botschafter in Nigeria, John Campbell, in einem Beitrag für die Denkfabrik „Council on Foreign Relations“. Islamische Gerichte haben die staatliche Justiz abgelöst. Grundlage ist – wie beim Boko-Haram-Vorbild „Islamischer Staat“ (IS) – eine strenge Auslegung der Scharia, die nicht selten Todesurteile zur Folge hat. Anders als im Kalifat des IS blieben die Raumgewinne jedoch bislang oft nur auf kurze Zeit beschränkt. Der Widerstand in der Bevölkerung ist weit höher, die Unterstützung ausländischer Dschihadisten geringer. In Nigeria gibt es – anders als in Syrien – keinen verhassten Diktator zu bekämpfen. Auf der amerikanischen Prioritätenliste jedenfalls rangiert Boko Haram erschreckend weit hinter dem Kampf gegen den Islamischen Staat.
Mutige Bürgerwehren leisten Widerstand
Die Terrorgruppe Boko Haram scheint als größte Gefahr derzeit die Bürgerwehren anzusehen, die sich in vielen Städten und Dörfern formiert haben, die Widerstand leisten. Zwar sind die Waffen denen der Terroristen weit unterlegen, doch die Beteiligung ist beachtlich, auch von Frauen. Die Zahl der mutigen Aktivisten übersteigt die der geschätzt 9000 Boko-Haram-Kämpfer. Auch das ist einer der Gründe für das neue Ausmaß der Gewalt in Baga. Dort hatten sich besonders starke Bürgerwehrgruppen formiert. Sie verteidigten die Stadt bis zu ihrem Fall im Januar zwei Jahre lang erfolgreich, obwohl Boko Haram mehrfach brutale Angriffe gestartet hatte. Boko Haram ging es neben der Eroberung von Baga darum, ein Exempel zu statuieren, um in anderen Gegenden Widerstandsbewegungen abzuschrecken.
Unabhängige Bilder aus der Stadt sind rar, da der Zugang für Journalisten und Fotografen nur unter Lebensgefahr möglich ist. Doch die Schilderungen der Augenzeugen sind abschreckend genug. „Überall in Baga und den umliegenden Dörfern liegen die Toten“, sagte Aisa Aribe, die nach Maidiguri geflüchtet ist, „die Leichen verrotten. Und es gibt niemanden, der sie begraben könnte.“
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