"Charlie Hebdo": Terroranschlag droht Frankreich zu spalten
Der Anschlag hat das Land in eine schwere Krise gestürzt. Die Behörden bieten alles auf, um die Täter zu finden. Doch das Massaker droht, Frankreich zu spalten.
Eigentlich hat Philippe Val keine Worte mehr, für das, was hier geschehen ist. Für den Verlust seiner Freunde, Vertrauten, Kollegen. Dann brechen sie doch aus dem früheren Redaktionsleiter von Charlie Hebdo heraus – minutenlang und so ergreifend, dass keiner der Radio-Journalisten, die ihn interviewen, es wagt, ihn zu unterbrechen. „Das waren so aufgeweckte Menschen, die wollten, dass der Humor seinen Platz in unserem Leben hat, die uns zum Lachen brachten. Sie waren die Besten von uns allen …“, schluchzt er. „Wir müssen uns jetzt gegen den Horror zusammentun, er darf nicht die Lebensfreude, die Freiheit, die Demokratie zerstören. Man kann nicht in der Angst weiterleben.“
Wenn das so einfach wäre. Angst, Bestürzung und tiefe Unruhe prägen überall in Frankreich die Nacht und den Tag nach dem Attentat auf die Pariser Redaktion des Satiremagazins. Zehn Mitarbeiter, darunter vier der berühmtesten Zeichner, sowie zwei Polizeibeamte sind tot. Elf Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. „Allah ist groß“, riefen die Täter. Schnell stand fest, dass es sich um einen Terror-Akt mit islamistischem Hintergrund, eine Rache-Aktion für Mohammed-Karikaturen handelte. Die Ermittler sagen, die Mörder gingen ebenso kaltblütig wie professionell vor: „Ein militärisch organisiertes und vorbereitetes Mord-Kommando.“
Ein Kommando, das von tausenden Polizisten gejagt wird. Noch in der Nacht zum Donnerstag, als Attacken auf zwei Moscheen und einen Kebap-Laden gemeldet werden, stellt sich der 18-jährige Hamid M. in der nordfranzösischen Kleinstadt Charleville-Mézières. Er hat in den sozialen Netzwerken gelesen, der Beteiligung an dem Anschlag verdächtigt zu werden. Es heißt, er soll der Fahrer gewesen sein. Später behauptet ein Schulkamerad, Hamid sei zum Tatzeitpunkt in der Schule gewesen.
In Paris gilt die höchste Terrorwarnstufe
Gleichzeitig fahnden die Ermittler fieberhaft nach den beiden Hauptverdächtigen. Sie nehmen sieben Personen aus deren Umfeld fest. Aber die Brüder Saïd und Cherif Kouachi, 34 und 32 Jahre alt, Franzosen mit algerischen Wurzeln und beide polizeilich bekannt, sind nicht darunter. Offenbar hat einer von ihnen im ersten Fluchtauto, das sie kurz nach der Tat gewechselt hatten, seinen Personalausweis vergessen. So ist die Polizei wohl an die Namen der beiden gekommen. Auch Molotowcocktails und Dschihad-Flaggen findet sie im Wagen.
Dann überschlagen sich die Ereignisse. Am Donnerstagmorgen wird etwa 80 Kilometer nordöstlich von Paris eine Tankstelle überfallen. Die beiden Täter sind vermummt. Trotzdem glaubt der Betreiber die Männer zu erkennen: Es sollen die gesuchten mutmaßlichen Terroristen sein. Elite-Einheiten von Polizei und Gendarmerie durchkämmen daraufhin das Gebiet rund um die Region Picardie. Gar von 88000 Einsatzkräften ist die Rede. Ein Fernsehsender will erfahren haben, dass sich die Gesuchten in einem Haus verschanzen. Bis zum Abend gibt es dafür keine Bestätigung.
In der Gegend gilt die höchste Terrorwarnstufe, genauso wie in Paris. Dort löst ein Schusswechsel im Vorort Montrouge neue Ängste aus. Eine junge Polizistin erliegt ihren Verletzungen, ein weiterer Beamter wird verwundet. Der Täter entkommt – und hinterlässt große Unruhe. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen? Was wird noch passieren?
Polizeibeamter: „Es herrscht Krieg in Paris"
Ein Polizeibeamter wählt in den französischen Medien drastische Worte für die Lage: „Es herrscht Krieg in Paris, um nicht zu sagen, der Dschihad.“ Kein Ausdruck des Entsetzens erscheint mehr zu stark – auch wenn Innenminister Bernard Cazeneuve zu „Zurückhaltung und Selbstbeherrschung“ aufruft.
Ein ganzes Land fühlt sich betroffen vom blutigen Anschlag auf eine Zeitschriftenredaktion, deren grenzwertiger Humor nicht unumstritten ist. Doch gerade weil keine Religion, keine Autorität oder Minderheit verschont bleibt von Charlie Hebdos beißendem Spott, gilt das Magazin als das Symbol der Meinungs- und Pressefreiheit.
Skandale um das Blatt hat es immer wieder gegeben. Auch erhielt es seit langem Drohungen. Im November 2011 brannten die damaligen Redaktionsräume nach einem anonymen Anschlag aus. Seither stand der Chefredakteur Stéphane Charbonnier unter Polizeischutz. „Wir wussten, dass die Gefahr real war, aber es herrschte keine Paranoia“, sagt der Journalist Antonio Fischetti, der zum Tatzeitpunkt nicht in der Redaktion war.
Noch radikaler hat es Chefredakteur Charbonnier formuliert, der unter den Todesopfern ist und offenbar erste Zielscheibe der Täter war: „Ich habe keine Kinder, keine Frau, kein Auto, keinen Kredit. Es klingt vielleicht etwas pompös, aber es ist mir lieber, aufrecht zu sterben, als auf Knien zu leben.“ Wie zynisch, dass es genau so kam.
Was viele Menschen in der Grande Nation empfinden, ist noch am Mittwochabend in mehreren Städten zu sehen. Zehntausende versammeln sich für eine Hommage an Charbonnier und die übrigen Opfer. Auch am Platz der Republik in Paris, nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernt. Nach einem anfänglich bedrückten Schweigen beginnt die Menge zu skandieren. „Freiheit!“, ruft sie. Und: „Charlie, Charlie!“ Die sozialen Medien quellen über vor Solidaritäts-Bekundungen. „Ich bin Charlie“ – in weißen Lettern auf schwarzem Hintergrund prangt das Bekenntnis auf Zeitungs-Titelseiten, auf Werbeflächen in ganz Paris, selbst auf Info-Tafeln an den Autobahnen.
Staatspräsident François Hollande ruft einen Tag der nationalen Trauer aus, die Fahnen hängen drei Tage lang auf halbmast. Am Mittag erstarrt das Land in einer Schweigeminute. Selbst die Pariser Metro steht still. „Unsere beste Waffe ist unsere Einheit“, sagt Hollande, der sich auch mit den Vertretern der Opposition trifft, darunter seinem Dauer-Gegenspieler Nicolas Sarkozy als Chef der bürgerlich-konservativen UMP. „Nichts kann uns teilen, nichts darf uns trennen.“
Ein hehres Ziel. Und die Realität?
Tatsächlich ist die Einigkeit Frankreichs brüchig. Während in Deutschland die „Pegida“-Bewegung seit Wochen mit ihren islamfeindlichen Parolen tausende Menschen in Dresden auf die Straße bringt, erscheint auch die französische Gesellschaft zunehmend gespalten. Gerade in Zeiten der wirtschaftlichen Krise wächst das Misstrauen gegen alles, was als fremd und bedrohlich wahrgenommen wird – und dazu gehört der Islam.
In Frankreich leben mehr Muslime als in anderen europäischen Ländern
Infolge seiner Kolonialgeschichte leben in Frankreich mehr Muslime als in jedem anderen Land Europas. Durch die laizistische Tradition, bei der Religion und Staat getrennt werden, fassen viele das Tragen von Schleiern oder die Bitte um Halal-Gerichte in Schulkantinen als Provokation auf. Das erklärt den Erfolg der Rechtspopulistin Marine Le Pen, die ihre Kritik am Islam und an mangelnder Integration der Muslime verknüpft mit dem Aufruf zum erbarmungslosen „Krieg gegen die Fundamentalisten“. Gestern fordert die Chefin des Front National gar ein Referendum über die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Le Pen trifft einen Nerv, umso mehr nach dem Schock-Attentat vom Mittwoch, von dem sich Vertreter der Muslime zwar eindeutig distanzieren. Dennoch befürchten sie noch mehr Ausgrenzung und konkrete Attacken – wie sie bereits in der Nacht auf Donnerstag tatsächlich geschehen. Die Muslime stehen zwischen zwei Feuern, die einander gegenseitig anheizen, sagt der Philosoph Ghaleb Bencheikh: „Intern müssen wir Fanatikern gegenübertreten, die die religiöse Botschaft pervertieren; außerhalb behaupten Polemiker, dass die Muslime andersartige Eindringlinge des Westens sind.“ Oder noch schlimmer: islamistische Extremisten.
Von ihnen wachsen in Frankreich dem Geheimdienst zufolge besonders viele heran. Die Terrorgefahr gilt seit langem als real, auch durch das militärische Engagement des Landes bei Konflikten in Afrika, seine aktive Beteiligung am Anti-Terror-Kampf und an den Luftschlägen gegen den Islamischen Staat (IS). Präsident Hollande sagt, in den vergangenen Wochen seien mehrere geplante Anschläge vereitelt worden.
Andere wurden bis an ihr Ende geführt. Im Frühjahr 2012 erschoss der 23-jährige Mohammed Merah in Toulouse und Umgebung drei Soldaten, drei jüdische Kinder und einen Rabbiner vor einer jüdischen Schule. Er galt wiederum Mehdi Nemmouche als Vorbild, der im Mai letzten Jahres im Jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen ermordete. Nemmouche soll zuvor ein brutaler IS-Geiselwächter in Syrien gewesen sein. Knapp 1000 Franzosen haben sich laut Innenministerium dem IS in Syrien und im Irak angeschlossen. Befürchtet wird die Rückkehr der radikalisierten und unberechenbaren Kämpfer.
Im Dschihad wähnten sich auch die mutmaßlichen Mörder von Charlie Hebdo. 2008 musste Cherif Kouachi in Haft wegen seiner Beteiligung an einem Netzwerk, das Kämpfer in den Irak schickte. Er und sein Bruder wurden überwacht, doch Hinweise auf ein Attentat habe es nicht gegeben, sagt Innenminister Cazeneuve. „Wir haben Charlie Hebdo getötet“, haben die Täter nach dem Blutbad verkündet.
Das Magazin soll nächste Woche mit einer Auflage von einer Million erscheinen. Sonst sind es 60000. Wenigstens ist es den Mördern nicht gelungen, das Blatt kaputt zu machen. Ein schwacher Trost.
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