Die Hamas steht am Abgrund
Die arabische Welt verweigert den radikalen Palästinensern im Kampf um Gaza die Rückendeckung. Wie sich die Islamisten ins Aus manövriert haben.
Wie immer, wenn der Kampf in Gaza eskaliert, gehen Muslime in aller Welt auf die Straßen, um ihre Solidarität mit den Palästinensern und ihre Wut auf Israel zu demonstrieren. In Jordanien forderten Hunderte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Jerusalem, in der Türkei waren die Proteste so heftig, dass Israel die Familien seiner Diplomaten abzog und die eigenen Bürger zu Beginn der Sommerferien davor warnte, nicht in Israels Lieblingsnaherholungsgebiet zu reisen. Auch in deutschen Städten wie Augsburg gingen Menschen auf die Straßen, um ihre Verbundenheit mit den Palästinensern auszudrücken.
Für die Hamas ist das alles nicht mehr als ein Trostpflaster. Sie ist über die Reaktionen in der arabischen Welt entsetzt – oder eher das Fehlen jeglicher Reaktion. „Die arabische Welt hat uns verraten“, klagte Hamas-Sprecher Sami Abu Suhri. „Wir sind doch nicht ein Teil Chinas, sondern der arabischen Welt!“ Doch die, so Abu Suhri, „unternimmt nichts, um Gaza zu retten“. Die Araber ließen die Palästinenser „in diesem Krieg völlig allein“.
Dabei wäre es der Hamas in vielen Fällen wahrscheinlich lieber, man ignorierte sie: Wenn sie schon von den Führungen Arabiens erwähnt wird, dann nur, um den Islamisten die gesamte Schuld für die Eskalation in Gaza zuzuschieben. Oder gar dazu, sich unverhohlen einen Sieg Israels herbeizuwünschen. Ausgerechnet im Staat, der für die Hamas die wichtigste Rolle spielt, ist der Hass auf die palästinensische Zweigstelle der Muslimbrüder dabei am größten. Seitdem Ägyptens Armee vor einem Jahr die Muslimbrüder in Kairo stürzte und stattdessen den General Abdel Fatah al-Sisi an die Staatsspitze stellte, gelten die Islamisten und alle ihre Verbündeten als Staatsfeinde. Zwar wird Israels Vorgehen in Gaza in den Medien scharf kritisiert, dennoch machte die Tageszeitung Al Wad allein die Hamas für die Eskalation in Gaza verantwortlich, weil sie Kairos Initiative für eine Waffenruhe ausgeschlagen hatte und Raketen auf Israel abschießt.
Die Hamas hätte viele Menschenleben retten können
Eine andere Zeitung warf der Hamas vor, sie stärke Israels Hardliner durch ihren eigenen Extremismus, leiste damit dem Siedlungsbau Vorschub und mache so die Zwei-Staaten-Lösung unmöglich. Und Ägyptens Außenminister Sameh Schukri meinte, die Hamas hätte viele palästinensische Menschenleben retten können, „wenn sie nur unser Angebot angenommen hätte.“ Der bewaffnete Arm der Hamas bezeichnete Ägyptens Vorschlag jedoch als „Kapitulation“, weil er die wichtigsten Forderungen der Islamisten ignoriert und weil er vorsieht, dem politischen Erzrivalen, die pragmatische Fatah, wieder eine Schlüsselrolle zu geben.
Worauf Sisi scheinbar zielt. Schließlich begnügt man sich in Ägyptens regimetreuer Presse längst nicht mehr nur mit Schuldzuweisungen. Die Kommentatorin Hayat Al Dardiri ließ sich im ägyptischen Fernsehsender Al Farain zum Aufruf hinreißen, Ägyptens Armee möge Israel beim Angriff auf Gaza helfen, um die Hamas zu zerstören: „Wir werden nicht vergessen, wie die Hamas unserer Sicherheit geschadet hat und während der Revolution gegen Mubarak half, in unsere Gefängnisse einbrach, um Häftlinge auf freien Fuß zu setzen“, sagte sie. Ägyptens wichtigste Tageszeitung Al Ahram stimmte sogar eine Lobeshymne auf Israels Premier an: „Danke dir, Netanjahu, und möge Gott uns mehr Menschen wie du schenken, um die Hamas zu vernichten!“
Ägyptens Hass auf die Hamas ist weit mehr als nur verletzte Ehre, nicht nur die Retourkutsche dafür, dass die Hamas den in Kairo ausgearbeiteten Waffenstillstand ablehnte und Sisi damit desavouierte. Der neue Machthaber hat auch gemeinsame Interessen mit Israel. Schon bald könnte Ägypten, das vor der Revolution noch Gas an Jordanien und Israel verkaufte, von israelischen Erdgaslieferungen abhängig werden. Es muss nicht nur Propaganda sein, wenn Kairo die Hamas für die prekäre Sicherheitslage im Sinai mitverantwortlich macht.
Und es gibt eine regionale Komponente: Die arabische Haltung zu den Islamisten spiegelt den umfassenden Machtkampf in der gesamten Region wider. Egal ob in Ägypten, Jordanien oder in Saudi-Arabien: Überall außer in Katar ringen sogenannte moderate Regime gegen eine Muslimbruderschaft.
Das Ansehen der Hamas hat einen historischen Tiefpunkt erreicht, den sie durch falsches Paktieren selber mitverschuldet hat. Vor Beginn des Arabischen Frühlings galt sie als Vertreterin der Achse des Widerstands – eine populäre, authentische lokale Alternative zu korrupten Regimen, die vom Westen gestützt wurden. Ihr Hauptquartier war in Damaskus, Geld und Waffen kamen aus dem Iran und aus den tiefen Taschen reicher Scheichs am Persischen Golf.
Doch der Bürgerkrieg in Syrien machte es der volksnahen Bewegung unmöglich, im Boot des zunehmend verhassten Baschar al-Assad zu bleiben. Der massakrierte nämlich nicht nur sein eigenes Volk, sondern war auch noch Vasall des schiitischen Iran, der von sunnitischen Arabern ebenfalls immer mehr als Fremdmacht angesehen wurde. Also brach Hamasführer Khaled Maschal seine Zelte in Syrien ab und zog nach Katar. Ohnehin baute er darauf, dass der Schutzschirm Syriens und des Iran bald durch einen viel besseren Patron ersetzt werden würde: Arabiens größten Staat – Ägypten. Hier übernahm die Muslimbruderschaft, die Mutterorganisation der Hamas, die Macht. Nun war man nicht nur mit einem legitimen, sunnitischen Regime liiert, sondern auch noch mit einem Land, das eine Grenze zu Gaza kontrollierte.
Doch der Armeeputsch in Kairo vergangenen Sommer machte Maschal einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Zum ersten Mal wurden fast alle Schmugglertunnel zwischen dem Sinai und Gaza geschlossen – und damit die militärische und wirtschaftliche Lebensader der Hamas gekappt. Außer Katar und der Türkei steht nun fast niemand mehr zu ihnen. Selbst die radikalislamische Terrororganisation Isis lehnt direkte Unterstützung der Hamas mit recht eigenwilligen Argumenten ab: Es sei ihr erstes Ziel, Muslime zu bekämpfen, die vom rechten Weg abgekommen seien. Außerdem habe sie noch keine göttliche Inspiration erhalten, um Juden zu bekämpfen.
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