Ein Jahr "GroKo" oder: Ein Ehepaar in den Flitterwochen
Mindestlohn und Mütterrente, mehr Geld für die Pflege und ein höheres Bafög: Im ersten Jahr nach der Wahl haben Union und SPD sich verhalten wie ein Ehepaar in den Flitterwochen.
Der Herbst des Missvergnügens beginnt am Dienstag, Punkt zehn Uhr. Wenn der Bundestag mit den Beratungen über den Haushalt 2015 beginnt, hat die Große Koalition ihre schönste Zeit schon hinter sich. Mindestlohn und Mütterrente, dazu die Rente mit 63, mehr Geld für die Pflege und ein höheres Bafög: Im ersten Jahr nach der Wahl haben Union und SPD sich verhalten wie ein Ehepaar in den Flitterwochen, das nur sich selbst im Sinn hat und nicht ans Morgen denkt. Wie im Rausch hat dieses Paar die Milliarden verplant, und zwar nicht nur die eigenen, sondern die Reserven der Rentenkassen gleich mit. Nun aber, da die Flitterwochen vorbei sind, holt der Alltag das Traumpaar der Wähler umso schneller wieder ein.
Die Pkw-Maut ist der Gipfel des Eisberges
Das Ende der politischen Sommerpause ist für die Koalition eine Zäsur. Nun wird sie nicht mehr daran gemessen, was war, sondern daran, was noch kommt – und das wird jede Menge Streit sein. So einvernehmlich und großzügig sich Union und SPD bisher ihre jeweiligen Wahlkampfversprechen erfüllt haben, so kontrovers und kleinlich werden sie in den nächsten Monaten um die nächsten Reformen feilschen. Das Gezerre um die Pkw-Maut, das kein Ende finden will, ist dabei nur der berühmte Gipfel des Eisberges. Unter der Oberfläche der Koalition ächzt und kracht es noch an vielen weiteren Stellen. Mal ist es die SPD, der die Ausnahmen bei der geplanten Mietpreisbremse zu weit gehen, mal ist es die Union, die sich gegen ein liberaleres Staatsbürgerschaftsrecht wehrt. Und fast immer geht es weniger um die Sache selbst als um den strategischen Geländegewinn, den ein Partner sich verspricht.
Seit Monaten tritt die Große Koalition auf der Stelle
Ein besonders schauriges Beispiel für diese Politik des Sich-aneinander-Abarbeitens ist der Streit um die kalte Progression. Die Union hat das Ende der heimlichen Steuererhöhung mehrfach versprochen, die SPD findet schon lange kein Argument mehr dagegen – bewegt aber hat sich nichts. Auf der einen Seite bremst der Finanzminister, der trotz gewaltiger Steuereinnahmen um seinen ausgeglichenen Haushalt fürchtet, auf der anderen Seite will die SPD zur Gegenfinanzierung den Spitzensteuersatz erhöhen, was wiederum die Union ablehnt. So tritt die Koalition seit Monaten auf der Stelle, zum Schaden von Millionen Beschäftigten, denen der Fiskus jedes Jahr mehr als zwei Milliarden Euro abnimmt, die ihm eigentlich gar nicht zustehen.
Überfällige Reformen werden auf die lange Bank geschoben
Dass die Große Koalition trotzdem so populär ist, liegt auch an der bräsigen Behaglichkeit, die sie verbreitet. Die gute Wirtschaftslage erlaubt es ihr, überfällige Reformen wie die der Pflegeversicherung auf die lange Bank zu schieben. Und wenn sie sich entscheidet, den Menschen etwas abzuverlangen, geschieht das nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners. Bei der Maut, zum Beispiel, unternimmt die CSU gewaltige Klimmzüge, um die deutschen Autofahrer halbwegs ungerupft davonkommen zu lassen. Die entscheidende Frage aber stellt gar niemand mehr: Kann ein Land, in dem Straßen und Brücken verrotten, mit ein paar hundert Millionen Euro mehr den Verkehrsinfarkt abwenden? Oder wäre es nicht vernünftiger, sich für eine Lösung nach österreichischem oder französischem Vorbild zu entscheiden und das Autobahnnetz in eine Gesellschaft auszulagern, die für dessen Erhalt ebenso verantwortlich ist wie für dessen Finanzierung?
Ob Maut, Mietpreisbremse oder kalte Progression. Der Herbst des Missvergnügens ist die erste große Bewährungsprobe für die Große Koalition. Wie gut eine Ehe tatsächlich ist, entscheidet sich ja nicht in den Flitterwochen – sondern häufig erst Jahre danach, nach den ersten schwereren Krisen. Und genau die ziehen in Berlin gerade herauf.
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