Eine Fahrt ins Ungewisse
Vom türkischen Çesme aus können Flüchtlinge das bessere Leben erahnen. Nur wenige Minuten dauert die Fahrt nach Griechenland. Doch bei dem Versuch ertrinken viele Flüchtlinge.
Das Meer ist ruhig an diesem Nachmittag. „Gefährlich ruhig“, sagt Kapitän Ertugrul Ismet Bayir. „Da wird heute Nacht einiges los sein.“ Die Sonne versinkt hinter der griechischen Insel Chios, als die „Güven“ in Çeme ausläuft. Das fast 90 Meter lange, weiße Flaggschiff der türkischen Küstenwache, das übersetzt den Namen „Vertrauen“ trägt, geht auf Patrouillenfahrt. Jeden Abend kreuzt die Küstenwache mit fünf Booten vor der türkischen Ägäisküste, die ganze Nacht lang. Um Menschen vor dem Tod zu retten. Die Flucht verhindern können – und wollen – sie meistens nicht.
Keine neun Kilometer sind es von Çesme, dem „Sylt der Türkei“, wo die Schönen und Reichen ihre Ferienhäuser haben, bis hinüber nach Griechenland. Zu dieser Jahreszeit ist es ruhig in dem kleinen Ort, der im Sommer eine Million Einwohner hat und jetzt gerade einmal 20.000. Ein paar Spaziergänger sind an den einsamen Stränden unterwegs. An den Kiosken, die in der Hochsaison Sonnencreme und Luftmatratzen an Touristen verkaufen, gibt es jetzt Schwimmwesten. Die Leuchtstreifen darauf sind überklebt, damit sie nachts nicht so leicht gesichtet werden können.
Fast meint man, nach Griechenland hinüberschwimmen zu können, an diesem Tag, an dem das Meer friedlich und türkisblau daliegt. Und man versteht, warum sich entlang dieser paar Kilometer Ägäisküste jede Nacht hunderte Männer mit ihren Frauen und Kindern in alte, löchrige Schlauchboote setzen. So nah scheint das griechische Ufer, so nah scheint Europa.
Die türkische Küstenwache kontrolliert die Seegrenze zu Griechenland
Ein Trugschluss. 2786 Flüchtlinge hat allein die „Güven“ im vergangenen Jahr aus der Ägäis gefischt. Und 15 Tote. Insgesamt sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mindestens 3735 Menschen bei der Überfahrt ertrunken – das sind mehr als zehn Tote jeden Tag. Gut 800.000 Flüchtlinge haben es im vergangenen Jahr geschafft, von der Türkei über die Ägäis nach Europa. Mit 58 Schiffen und Schnellbooten versucht die türkische Küstenwache die fast 3000 Kilometer lange zerklüftete Seegrenze zu Griechenland zu kontrollieren – wie es Ankara der Europäischen Union zugesagt hat.
Die Grenze nach Europa komplett dichtzumachen, das geht nicht – auch wenn die „Güven“ mit modernster Technik wie Radar, Nachtsichtgeräten und Wärmebildkameras ausgestattet ist und Hubschrauber die Küste abfliegen. Zu nah sind die Inseln, zu gut organisiert die Menschenschmuggler, zu groß das Gebiet, das in jeder Bucht unzählige Verstecke bietet.
Im Schnellboot dauert die Überfahrt sechs bis zehn Minuten, selbst ein Schlauchboot, an dem der Außenbordmotor funktioniert, ist nach 20 Minuten aus dem Zugriffsbereich der türkischen Küstenwache verschwunden. Und wer es sich leisten kann, bucht für 15.000 Euro die Luxus-Flucht auf dem Jetski.
Bayerns Europaministerin Beate Merk (CSU) ist drei Tage lang in der Türkei unterwegs, um sich in Ankara, Izmir und Çesme darüber zu informieren, ob – und vor allem wie – der massive Flüchtlingsstrom nach Deutschland gestoppt werden kann. Denn immer noch kommen täglich Tausende Einwanderer in Bayern an, vorwiegend aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.
Anfang Januar waren es im Schnitt noch 3000 am Tag, in den vergangenen Tagen rund 1800. „Wenn wir in Europa so weiterleben wollen wie bisher, müssen wir in der Flüchtlingspolitik das Steuer dringend herumreißen“, sagt Merk. „Dazu gehört, dass wir klar benennen, wie vielen Menschen wir in Deutschland Hilfe geben können. Denn sonst bricht unser System zusammen: unsere Verwaltung, unsere Finanzen – und auch die Geduld unserer Bevölkerung.“
In der Türkei hört man immer wieder vom "Merkel-Effekt"
Eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen, „die bei uns bleiben und die wir integrieren können“, wie Ministerpräsident Horst Seehofer es definiert hat, nennt die Ministerin „eine realistische Zahl“. Eine Zahl allerdings, die in diesem Jahr bereits im Februar erreicht sein wird, wenn der Flüchtlingsstrom über die Türkei, über die Ägäis nach Griechenland und weiter nach Deutschland so anhält. Zumal diese Flüchtlingsbewegung erst der Anfang sei, meint Merk mit Blick auf Afrika.
Allein rund 2,5 Millionen Syrer leben derzeit in der Türkei, so die offiziellen Zahlen. Nach Schätzungen der Hilfsorganisationen können es auch doppelt so viele sein. Denn die wenigsten, sagt Polat Kizildag von der staatlichen türkischen Hilfsorganisation ASAM, lassen sich dort auch registrieren. Zu groß ist die Angst vieler, bleiben zu müssen. Zu groß der Wunsch, nach Deutschland weiterzureisen, wo sich viele Wohlstand erhoffen und ein freies, sicheres Leben.
Vom „Merkel-Effekt“ hört man immer wieder in der Türkei. Von den Selfies der Kanzlerin mit Flüchtlingen, die die Flüchtlingswelle derart verstärkt haben. Und von vielen Gerüchten, die unter den Syrern kursieren: dass sie in Deutschland ein Haus bekämen, ein Auto, einen Arbeitsplatz. Die sozialen Netzwerke seien voller Erfolgsgeschichten, die häufig von den Schleusern gestreut seien und zu gerne geglaubt würden.
Menschenschmuggel ist ein Riesengeschäft in der Türkei. Die Schleuser gehen in die elf großen Flüchtlingslager, die es übers Land verstreut gibt und werben dort für das Paradies Deutschland. Jetzt im Winter, wo das Ägäische Meer rauer und die Überfahrt gefährlicher ist, gibt es Sonderpreise. Der Platz im Schlauchboot, der im Sommer bis zu 1500 Euro pro Person kostet, ist für die Hälfte zu haben. Was erklären kann, warum auch bei schlechtem Wetter die Flüchtlingszahlen nicht wesentlich zurückgehen.
Die türkische Polizei kontrolliert auf der Autobahn zwischen der Provinzhauptstadt Izmir und Çesme Busse, Lastwagen und neuerdings auch Taxis, in denen die Schleuser ihre menschliche Ware an die Küste transportieren. Wird ein Flüchtling ohne Papiere aufgegriffen, muss er zurück in den Landkreis, aus dem er kommt – und sich registrieren lassen. „Was nichts nützt“, sagt Küstenwache-Kapitän Bayir. Er erzählt von dem Mann, den die „Güven“ im Sommer sechsmal in einer Woche aus dem Meer gefischt hat. Von der Frau, die das Schiff an einem Tag zweimal retten musste. Und von den 200 Menschen, die Schleuser mit dem Versprechen, das sei Griechenland, auf einem unbewohnten Felsen ausgesetzt haben, der allerdings zur Türkei gehört. „Was sollen wir tun? Wir können sie ja nicht festhalten“, sagt er.
Fast 3700 Schleuser sitzen in Untersuchungshaft
Es ist eine Sisyphusarbeit, die die türkische Küstenwache leistet. Ein Kampf gegen die Illegalität, den sie nicht gewinnen kann. Denn im Schutz der Dunkelheit und der Berge, die die Küste umgeben, hat die Polizei keine Chance gegen die Schleuserbanden. Die sammeln ihre Kundschaft in den Bauruinen der Hotels, die es im Hinterland zu Dutzenden gibt, und bestellen sie per SMS dorthin, wo die Boote ablegen. Ein Beobachter mit Fernglas, der auf einem der Hügel sitzt, meldet, wohin die Küstenwache gerade ausläuft – und schickt die Flüchtlinge dann in die entgegengesetzte Richtung. So einfach ist das.
Immerhin fast 3700 Schleuser sitzen inzwischen in Untersuchungshaft, 190 von ihnen hat allein die Küstenwache im vergangenen Jahr aufgegriffen. Zwei sind wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden, was seit einer Strafverschärfung möglich ist. Und die Türkei hat gerade eine Visumspflicht für syrische Flüchtlinge eingeführt. Außerdem können sie seit ein paar Tagen eine Arbeitserlaubnis beantragen – auch wenn noch keiner so genau weiß, welche Jobs sie tatsächlich ausüben dürfen.
„Ich habe schon den Eindruck“, sagt Merk, „dass die Türkei die Flüchtlinge im Land halten will und sie nicht einfach weiterschickt in Richtung Europa.“ Sie sagt aber auch, „dass die EU die Türkei dabei nicht alleine lassen darf – wie es zunächst bei Italien der Fall war“. Das Land müsse finanziell unterstützt werden. Sprich: Die zugesagten drei Milliarden Euro müssten endlich fließen, um die die EU-Staaten am Freitag wieder stundenlang gerungen haben – ergebnislos.
Geld, das ihr Land dringend braucht, sagen die offiziellen Stellen in der Türkei. Um beispielsweise Schulen zu bauen und Lehrer einzustellen. Von den 650.000 Flüchtlingskindern im Land kann derzeit nicht einmal die Hälfte unterrichtet werden. Und es kostet allein 15.000 Euro, um das Rettungsschiff „Güven“, auf dem sich ein Hubschrauber-Landeplatz und eine Krankenstation befinden, eine Stunde lang mit 15 Knoten Geschwindigkeit (etwa 26 Stundenkilometer) in der Ägäis kreuzen zu lassen, rechnet Kapitän Bayir vor.
Viele Experten sagen aber auch: Diese drei Milliarden Euro von der EU sind rausgeschmissenes Geld – weil der Großteil der Flüchtlinge eben nicht in der Türkei bleiben will, sondern sich bewusst auf den Weg in ein neues, wohlhabendes Land macht, das sie aufnimmt. Für dieses Ziel – und auch weil sie sonst keine Perspektive haben – nehmen sie vieles in Kauf.
„Die syrischen Flüchtlinge haben inzwischen alle Hoffnung aufgegeben, irgendwann einmal in ihre Heimat zurückkehren zu können“, sagt der Gouverneur der Provinz Izmir, Mustafa Toprak. „Sie wissen, dass sie sterben können, wenn sie in ein Schlauchboot steigen.“ Doch solange kein Frieden herrscht in Syrien, würden sie sich in Lebensgefahr begeben – und an dem Gedanken an illegale Migration festhalten, warnt er. „Dieses Problem können wir nicht in der Türkei lösen.“
Kapitän Bayir hat recht behalten. In dieser sternenklaren Nacht war viel los in der Ägäis. Hundert, vielleicht zweihundert Flüchtlinge dürften sie wieder geschafft haben, die wenigen Kilometer von Çesme nach Griechenland. Am Morgen dann meldet die Polizei, dass die Küstenwache 60 Menschen aus dem eiskalten Wasser gerettet hat. Und dass wieder vier kleine Kinder umgekommen sind.
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