Liberale Vordenkerin Hamm-Brücher ist tot
Für Franz Josef Strauß war Hildegard Hamm-Brücher eine „Krampfhenne“, für die meisten anderen die „Grande Dame“ der Liberalen. Mit einer legendären Rede war ihre Karriere beendet.
Helmut Kohl ist nervös. Nur mit Mühe gelingt es ihm, ruhig sitzen zu bleiben. Er gestikuliert, ruft etwas. Doch seine Worte gehen im Applaus unter. Der Mann steht so kurz vor seinem großen Ziel, endlich Kanzler zu werden. In zahllosen Hinterzimmergesprächen hat er alles von langer Hand geplant. Und dann kommt da diese Frau und droht, alles wieder ins Wanken zu bringen. Hildegard Hamm-Brücher wirkt wie die Hauptdarstellerin aus einem Adelsroman. Silberfarbenes Haar, grau meliertes Kostüm, weiße Bluse mit Schleife am Kragen. Und dann spricht sie auch noch über Anstand und Moral. Oder besser: über fehlende Moral.
Hildegard Hamm-Brücher: Rede geht in die Geschichte ein
Bonn, Oktober 1982. Die FDP-Politikerin Hamm-Brücher will sich nicht damit abfinden, dass ihre Partei die Seiten wechseln und damit Kohl helfen soll, dessen Rivalen Helmut Schmidt über ein konstruktives Misstrauensvotum zu stürzen. Sie hält eine Rede, die in die Geschichte des Bundestags eingehen wird. Wer verstehen will, was das etwas aus der Mode gekommene Wort Haltung bedeutet, findet hier ein ideales Beispiel. Für Hamm-Brücher hat ein Machtwechsel auf diese Art das „Odium des verletzten demokratischen Anstands“. Denn: Nur zwei Jahre vorher hatte die FDP ein starkes Wahlergebnis eingefahren – auch dank des Versprechens, die Koalition mit der SPD weiterzuführen. Und das soll plötzlich nichts mehr wert sein?
„Ich finde, dass beide dies nicht verdient haben: Helmut Schmidt, ohne Wählervotum gestürzt zu werden, und Sie, Helmut Kohl, ohne Wählervotum zur Kanzlerschaft zu gelangen“, sagt Hamm-Brücher. Sie weiß, dass die Sache wohl längst gelaufen ist. Sie weiß, dass Kohl ihr diese Rede nie verzeihen wird. Und sie weiß, dass ihre politische Karriere damit beendet sein könnte. Doch das alles ist ihr nicht so wichtig. Ihr geht es darum, Haltung zu zeigen.
Hildegard Hamm-Brücher geht in einer Zeit in die Politik, als Frauen dort noch als schmückendes Beiwerk gelten. Es sind die Erfahrungen ihrer Kindheit, die sie zum politischen Menschen machen. Weil ihre Eltern früh sterben, zieht sie aus dem Ruhrgebiet nach Dresden. Dort kümmert sich die jüdische Großmutter um die fünf Kinder – bis sie sich 1943 mit Schlaftabletten das Leben nimmt. Die Nazis wollten sie in ein Konzentrationslager deportieren. Hildegard Brücher ist Anfang 20, und in diesem Moment steht für sie fest, dass sie ihr Leben lang für die Freiheit kämpfen will.
Hildegard Hamm-Brüche ist tot: Weg in Politik begann verschlungen
Doch der Weg in die Politik beginnt verschlungen. Die junge Frau studiert, macht sogar ihren Doktor in Chemie, sie arbeitet an der Seite des Schriftstellers Erich Kästner als Journalistin für die Neue Zeitung in München und wird schließlich Stadträtin in ihrer neuen Heimatstadt. Sie heiratet den CSU-Politiker Erwin Hamm und bekommt zwei Kinder. Sie kämpft für die Rechte der Frauen und macht Karriere in einer Männerdomäne. Was die einen beeindruckt, ist für andere eine Provokation. Franz Josef Strauß lästert über die „Krampfhenne“ von der FDP. Dessen Vorgänger als bayerischer Ministerpräsident, Alfons Goppel, nennt sie eine „Bissgurke“. Hamm-Brücher trägt es mit Fassung und behauptet sich auch in Bonn, wo sie Staatsministerin im Auswärtigen Amt unter Hans-Dietrich Genscher wird.
Mit jener Rede im Oktober 1982 beginnt die Entfremdung von ihrer Partei. Der nächsten Regierung – unter Kanzler Kohl – gehört sie nicht mehr an. Immerhin: 1994 stellen die Liberalen sie als Bundespräsidenten-Kandidatin auf. Aber gegen Roman Herzog hat sie keine Chance. Im Alter wird Hamm-Brücher zur „Grande Dame“ der FDP, begleitet ihre Partei wohlwollend, aber durchaus kritisch. Erst 2002 tritt sie aus. Anlass ist ein Streit um antisemitische Worte des damaligen FDP-Vize Jürgen Möllemann. Auch hier geht es ihr um Haltung. Eine Liberale ist Hamm-Brücher auch ohne Parteibuch immer geblieben.
Am Mittwoch starb sie mit 95 Jahren – im selben Jahr wie die früheren FDP-Vorsitzenden Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle.
Die Diskussion ist geschlossen.