Hartz IV: Ein heilsamer Schock für ein träge gewordenes Land
Vor zehn Jahren verschmolzen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV. Die Mutter aller Reformen war höchst umstritten. Nötig war sie gleichwohl.
Die Frage aller Fragen ist bis heute nicht beantwortet. Liegt es an Hartz IV, dass sich die Zahl der Arbeitslosen innerhalb von zehn Jahren nahezu halbiert hat – oder ist das vor allem das Ergebnis einer guten Konjunktur, moderater Tarifabschlüsse und der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, mit dem die damalige Große Koalition während der Finanzkrise hunderttausende von Jobs gerettet hat? Am Ende wird es vermutlich von allem etwas sein, das Epizentrum dieses Erfolges allerdings liegt ohne Zweifel in einer der umstrittensten sozialpolitischen Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte: dem Verschmelzen der ehemaligen Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II, vulgo Hartz IV.
Reform war für Gerhard Schröder der Anfang vom Ende seiner Kanzlerschaft
Für Wolfgang Clement, den damaligen Wirtschaftsminister, war die Entscheidung die Mutter aller Reformen, für Gerhard Schröder der Anfang vom Ende seiner Kanzlerschaft und für Millionen Menschen zunächst einmal eine Zumutung. Indem der Staat den Druck, sich eine Arbeit zu suchen, erhöhte und mit Sanktionen drohte, beendete er nicht nur das ineffiziente Nebeneinander zweier Fürsorgesysteme, in denen eine wachsende Zahl von Menschen zwar arbeitslos gemeldet war, dem Arbeitsmarkt aber faktisch nicht zur Verfügung stand. So radikal, wie Schröder und Clement vorgingen, nahmen sie den Deutschen auch endgültig die Illusion, dass in ihrem Wohlfahrtsstaat alles so bleiben könnte, wie es ist. Bei allen Problemen im Vollzug war Hartz IV genau der heilsame Schock, den der verkrustete Arbeitsmarkt brauchte. Auch deshalb wurde aus dem kranken Mann Europas wieder ein zupackender, fleißiger Vorarbeiter.
Teuer erkauft ist diese Kehrtwende gleichwohl. Geschätzte 450 Milliarden Euro hat Hartz IV die Steuerzahler bisher gekostet, also mindestens genau so viel wie das alte System, das im letzten Jahr seines Bestehens etwa 42 Milliarden Euro verschlungen hatte. Der immer wieder erhobene Vorwurf, mit der Mutter aller Reformen habe der Staat Armut per Gesetz verordnet, ist so gesehen absurd: Wenn die Zahl der Bedürftigen sinkt, die Summe der eingesetzten Mittel aber nicht, führt das per Saldo nicht zu massenhafter Armut. Wirklich besorgniserregend ist nach zehn Jahren des Forderns und Förderns etwas anderes: Obwohl die Wirtschaft brummt, stagniert die Zahl der Langzeitarbeitslosen bei gut einer Million – und jeder Fünfte von ihnen lebt bereits seit der Einführung 2005 von Hartz IV. Dass diese strukturelle Arbeitslosigkeit nicht weiter zurückgeht, muss auch der Bundesagentur für Arbeit zu denken geben: Offenbar erreicht sie mit ihren Förderprogrammen viele Erwerbslose nicht mehr – oder sie vermittelt ihnen Qualifikationen, die in der modernen Arbeitswelt nicht mehr gefragt sind. Dass Sozialministerin Andrea Nahles jetzt mit hohen Lohnkostenzuschüssen und speziellen Beratungsstellen für Langzeitarbeitslose gegensteuern will, ist nur ein Beweis mehr für die partielle Hilflosigkeit der Arbeitsverwaltung: Was auch immer sie versucht, ein manifester Teil ihrer Klienten ist nicht vermittelbar oder will nicht vermittelt werden.
Hartz IV hat nicht Armut per Gesetz geschaffen, sondern Arbeit
Ja, Hartz IV hat den Druck erhöht. Ja, Hartz IV war für viele Betroffene eine Zumutung und hat in Einzelfällen alte Ungerechtigkeiten durch neue ersetzt. Nur was wäre die Alternative gewesen? Ein Land, das so von der Kreativität und vom Fleiß seiner Menschen lebt wie die Bundesrepublik, kann nicht nur den Mangel verwalten. Ende 2004 waren bei der damaligen Bundesanstalt in Nürnberg 4,5 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, weitere 1,9 Millionen lebten von der Sozialhilfe. Schon deshalb hat Hartz IV nicht Armut per Gesetz geschaffen, sondern Arbeit.
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