Lage in der Türkei: Böses Erwachen in "Erdoganistan"
Der deutsch-türkische Buchautor und Journalist Hasan Cobanli sieht die Türkei an einem neuen Tiefpunkt angelangt. In einem Interview mit unserer Zeitung rechnet er mit ihr ab.
Sie sind ein Kenner der Türkei. Glauben Sie, dass tatsächlich die Gülen-Bewegung hinter dem misslungenen Putsch stecken könnte?
Cobanli: Nein. Das glaubt kein Mensch. Nicht einmal Erdogan selber, möchte ich meinen. Höchstens einige seiner Anhänger – einfach, weil das jetzt von oben oktroyiert offizielle Lesart zu sein hat. Aber die glauben ja auch, dass ihr Präsident nicht korrupt ist, oder dass Kolumbus 1492 in der Karibik eine Moschee gesichtet hat und folglich Moslems die wahren Entdecker Amerikas sind. Der alte Mann in Amerika ist sicher kein Freund dieses Regimes, er hat sicher Einfluss auf das Bildungssystem der Türkei, seine (vermeintlichen) Schergen werden ja auch gerade massenweise aus ihren Ämtern verjagt und festgenommen. Aber auf die inneren Zirkel der Armee hat Gülen meines Wissens keinen Einfluss. Jedenfalls nicht in dem Maße, dass er von Ferne einen veritablen Putsch organisieren lassen könnte.
Hat Sie der Putsch überrascht?
Cobanli: Mich, meine türkischen Freunde, mit denen ich mich in jener Nacht pausenlos über alle verfügbaren Kanäle austauschte, und wohl jeden Beobachter weltweit hat etwas anderes einfach nur ungläubig den Kopf schütteln lassen: Dass im 21. Jahrhundert Teile der durch Säuberungen und Prozesse in der jüngeren Vergangenheit geschwächten und teilweise ja auch durchaus regierungstreuen Streitkräfte tatsächlich einen Coup d’Etat wagen. Müssten die Planer doch damit gerechnet haben, dass die eine Hälfte des Volks aus Loyalität zum geliebten Präsidenten und Führer Erdogan und die andere Hälfte aus Furcht vor dem endgültigen Ende der sowieso schon nicht mehr existenten Demokratie in „Erdoganistan“ sich den Soldaten massiv widersetzen würden.
Wenn es Putschisten gab, waren es Dilettanten
Sie haben den erfolgreichen Putsch 1980 miterlebt. Können Sie sich erklären, warum der gescheiterte Staatsstreich so dilettantisch organisiert war?
Cobanli: Wenn es wirklich echte Putschisten gab, waren sie nicht nur in der Ausführung dilettantisch – wer besetzt einen unwichtigen Sender, vergisst aber die sozialen Medien? –, sondern auch in der Planung völlig realitätsfern. Und da eine ganze Gruppe von hohen Offizieren so dumm eigentlich nicht sein kann, wenn sie gleichzeitig – theoretisch – so schlau waren, in einem Überwachungsstaat Putschpläne zu schmieden und geheim zu halten, folgt für mich daraus: Es war ein Fake. Ein großes Theater mit ein paar Kollaborateuren und ein paar hundert billigend in Kauf genommenen Kollateralschäden. Inszeniert vom Staat. Zugegeben eine beinahe schon zynische Theorie, aber ich kann mich ihrer nicht ganz erwehren. Denn zutrauen tue ich diesem Staat und seinem Führer mittlerweile alles: auch, dass Erdogans Drahtzieher den Putsch per se inszeniert haben, um einen Blankoscheck für ihre längst bis ins Detail vorbereiteten Säuberungen zu erhalten.
Nach dem Scheitern des Putsches ging alles sehr schnell. Tausende Militärs, Beamte, Richter, Polizisten und Wissenschaftler wurden suspendiert.
Cobanli: Erdogan hat den gesamten Staatsapparat in den vergangenen Jahren darauf ausgerichtet, vermeintliche Gegner der Regierung ausfindig zu machen. Deshalb ist es mehr als denkbar, dass schwarze Listen in türkischen Regierungs- und Justizkreisen kursieren. Dass die Regierung in Ankara Buch führt über ihre Staatsfeinde, ist in der Türkei ein offenes Geheimnis.
Spätestens nach der Ausrufung des Ausnahmezustands wächst die Sorge davor, dass Erdogan die Demokratie systematisch aushebelt. Zu Recht?
Cobanli: Ja. Die Machtgier und eben auch der (möglicherweise inszenierte) Machtkampf der AKP-Regierung um Erdogan rast gerade ohne Geschwindigkeitsbegrenzung auf einer Art historischer Überholspur – und beachtet nicht nur keine Verkehrsregeln mehr, es fährt sie eines nach dem anderen über den Haufen. Nichts kann den Herrschsüchtigen stoppen – wir werden sehen: Er paukt auch die Wiedereinführung der Todesstrafe durch und sein persönliches Ermächtigungsgesetz gleich mit. Das Schlimme ist: Die Todesstrafe würde viele Gute, viele Unschuldige treffen.
Es müsste ein Wunder passieren
Glauben Sie daran, dass eine Art Präsidialdiktatur noch verhindert werden kann?
Cobanli: Da sehe ich schwarz. Wie und wem sollte das gelingen? Wir haben es in der Türkei spätestens seit den Gezi-Park-Tagen mit einer ebenso bestechlichen wie fanatisch-verängstigten Volksseele zu tun. Dieser Mix aus einerseits schwitzend vor Angst, andererseits zu allem bereit, nur um nicht aufzufallen, Mitläufertum, fehlender Courage zum Anders-Sein ergibt eine blinde und leicht lenkbare Masse. Da müsste schon ein Wunder passieren, und das wäre sicher kein echter oder besser organisierter oder vom Volk ausgehender Staatststreich.
Was bedeutet das für die Türkei?
Cobanli: Die Türkei ist – und es tut mir persönlich weh, das festzustellen – am Tiefpunkt ihrer neueren Geschichte angelangt. Politisch, moralisch und in Folge bald auch wirtschaftlich. Diesen Absturz hat sie auch und vor allem der beleidigten, komplexbeladenen und rachsüchtigen Mentalität ihres Capos zu verdanken. Ich fürchte um meine zweite Heimat Türkei – sie ist dabei, einem neuen Caesar oder besser Sultan zum Opfer zu fallen.
Welchen gesellschaftlichen Gruppen trauen Sie noch Widerstand zu?
Cobanli: Derzeit absolut keiner. Wenn ja nicht mal die Opposition sich einigen kann. Ach, diese Türkei hatte einst vor noch nicht so langer Zeit eine funktionierende Pressevielfalt und sogar eine recht kreative Satire-Kultur. Die Türkei hat wunderbare Dichter und Sänger hervorgebracht, die türkische Sprache ist voller Witz, die Lieder, die man auf der Straße sang, voller Seele, lyrischer Power und augenzwinkernder Subversion – was ist daraus geworden? Man möchte es nicht glauben – und man kann natürlich nicht allein einem Mann und seiner Bewegung den Niedergang jeglicher Kultur in diesem Land vorwerfen. Nicht die Macht ist das Problem, sondern die Borniertheit und Verblendung, die die Macht erst ermöglicht.
Der deutsch-türkische Journalist und Buchautor wurde 1952 in Istanbul geboren. Er stammt aus einer Familie, die in der Türkei sehr bekannt ist. Sein Großvater war General Cevat Pascha, ein enger Weggefährte von Kemal Atatürk, dem Begründer der Türkischen Republik. Heute lebt Cobanli in München. Sein aktuelles Buch ist die Familiengeschichte „Der halbe Mond“, das er zusammen mit dem Grimme-Preisträger Stephan Reichenberger geschrieben hat. Erschienen ist das Werk im Verlag Langen-Müller; ISBN: 9783784433776; 24 Euro.
Die Diskussion ist geschlossen.