Angela Merkel und François Hollande reden Europa ins Gewissen
Das deutsch-französische Führungsduo will der Europäischen Union mitten in der Flüchtlingskrise eine Kurskorrektur verordnen. Dazu gehören unangenehme Wahrheiten.
Das Bild erscheint längst gewohnt und doch ist es ein Beleg für eine historische Entwicklung, die untrennbar mit Europa verbunden bleibt: die deutsche Kanzlerin und der französische Staatspräsident, nebeneinander in dem Parlament, in dem die Vertreter von 508 Millionen Europäern aus 28 Mitgliedstaaten sitzen. Man mag über den Inhalt der beiden Reden, die Merkel und Hollande am Mittwoch vortrugen, streiten. Aber der geschichtliche Rückblick macht aus der Selbstverständlichkeit eine Errungenschaft, deren große Bedeutung beim Blick über die Grenzen wieder auffällt.
Nötige Klarstellung: Nicht alle haben ein Recht auf Asyl
Paris und Berlin sind der Motor dieser Gemeinschaft geworden. Und selbst wenn Hollande Bekenntnisse zur EU ablegte, die er selbst hier und da zu Hause höchst ungern in die eigene Politik übernimmt, waren die Worte beider wichtig und übermitteln Europa zwei Botschaften: Diese Union ist, wenn sie zusammensteht, so stark, dass auch diese Krise um die Flüchtlinge gemeistert werden kann.
Und: Wir haben die notwendigen Beschlüsse, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, die Angekommenen zu sortieren. Wir sind entschlossen, die zurückzuschicken, die keinen Anspruch auf Schutz haben. Wenn es Merkel und Hollande gelingt, aus diesen Worten greifbare Politik zu machen, hat sich der Ausflug nach Straßburg gelohnt.
Tatsächlich war es wichtig, die vielen Konfrontationen in und zwischen den Mitgliedstaaten aufzugreifen, indem man auch unangenehme Wahrheiten aussprach. Dass die Gemeinschaft ihre Außengrenzen verteidigen muss, widerspricht nicht der Offenheit für ein Asylrecht, das keineswegs allen zusteht, die sich in den Strom eingereiht haben. Gleichzeitig darf diese Unterscheidung nicht zur Verunglimpfung aller werden, die da gerade kommen. Solche Klarstellungen waren nötig, auch wenn sie nicht bei allen, an die sie gerichtet sind, ankommen werden.
Europa hat sich zu lange mit sich selbst beschäftigt
Hier standen nicht nur einfach zwei führende europäische Politiker nebeneinander. Merkel und Hollande verkörperten das Beispiel zweier Länder, die es geschafft haben, über geschichtliche Gräben hinweg eine neue, gemeinsame Zukunft aufzubauen. Wer das im Hinterkopf behielt, durfte den Auftritt als etwas Großes empfinden und sich wünschen, dass die Vertreter der übrigen europäische Länder sich davon anstecken lassen.
Ob die beiden Reden dem Anspruch eines historischen Momentes gerecht wurden, ist nebensächlich. Entscheidend ist, dass sowohl Merkel wie Hollande der EU eine Kurskorrektur verordnet haben. Aus der Gemeinschaft, die sich seit Jahren mit eigenen Problemen beschäftigt, muss eine politische Union werden, die ihr Gewicht zur Lösung von Krisen in ihrer Nachbarschaft einsetzen kann.
Das ist bei der Schlichtung in der Ukraine nur in Ansätzen, in Syrien, Libyen oder Nordafrika überhaupt nicht gelungen. Die bittere Selbsterkenntnis des französischen Staatspräsidenten, dass man die Auswirkungen der Kriege um uns herum nicht früh genug richtig eingeschätzt habe, stimmt. Und sie ist folgenschwer, wie die Welle der Opfer Richtung Europa belegt. Diese EU hat sich viel zu lange um sich selbst gedreht, um noch Kraft für andere wesentliche politischen Fragen aufbringen zu können.
Die Kanzlerin und der Präsident haben eine Vision: Es ist das Bild einer Europäischen Union, die mit ihrer Art überzeugt, Konflikte diplomatisch zu lösen anstatt wie andere zu militärischen Mitteln zu greifen. Für eine solche Gemeinschaft braucht man zwar keine gleichgeschalteten Mitgliedstaaten, aber überzeugte Europäer, die kompromissfähig sind. Das kann man derzeit keineswegs vom europäischen Führungspersonal sagen. Europa hat die Konflikte lange falsch eingeschätzt.
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